Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Doch wie zwei Entdecker, die aus verschiedenen Richtungen zu einer Schatzsuche aufgebrochen sind, waren Darwin und sie auf ein und dieselbe juwelengefüllte Truhe gestoßen. Was sie aus den Moosen abgeleitet hatte, das hatte er aus den Finken geschlossen. Was sie auf den Felsbrocken von White Acre beobachtet hatte, das war ihm am Galapagos-Archipel begegnet. Almas Felsbrocken waren ja im Grunde nichts anderes als ein Archipel en miniature . Insel bleibt schließlich Insel, ob ihr Durchmesser nun drei Fuß oder drei Meilen beträgt, und die einschneidendsten Ereignisse in der Natur vollziehen sich nun einmal auf dem rauen, isolierten, konkurrenzstarken Schlachtfeld einer Insel.
Es war ein wunderbares Buch. Alma schwankte bei der Lektüre zwischen Schmerz und Bestätigung, zwischen Bedauern und Bewunderung.
Darwin schrieb: »Es werden mehr Individuen geboren, als fortzuleben im Stande sind. Ein Gran in der Waage kann den Ausschlag geben, welches Individuum fortleben und welches zu Grunde gehen soll.« Er schrieb: »Kurz, wir sehen schöne Anpassungen überall und in jedem Theile der organischen Welt.«
Alma spürte einen solchen Sturm von Gefühlen in sich aufwallen, dass sie glaubte, einer Ohnmacht anheimfallen zu müssen. Es traf sie wie ein Hitzeschwall aus einem Hochofen: Sie hatte recht gehabt.
Sie hatte tatsächlich recht gehabt!
Beim Weiterlesen schwirrten ihr widersprüchliche Gedanken an Onkel Dees durch den Kopf: Wenn er das doch noch erlebt hätte! Dem Himmel sei Dank, dass er das nicht mehr erlebt hatte! Er hätte ihr endlose Vorhaltungen gemacht: »Siehst du, ich habe dir doch gesagt, du sollst veröffentlichen!« Und doch hätte ihn diese großartige, billigende Bestätigung der Arbeit seiner Nichte aufrichtig gefreut. Alma wusste kaum, wie sie die Situation ohne seinen Beistand bewältigen sollte. Sie sehnte sich fürchterlich nach ihm. Für ein wenig Trost von ihm hätte sie seinen Tadel bereitwillig in Kauf genommen. Unweigerlich wünschte sie sich auch, ihr Vater hätte das noch erlebt. Und Ambrose. Hätte sie das doch selbst veröffentlicht! Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.
Warum hatte sie nicht veröffentlicht?
Die Frage gab ihr einen Stich – doch während sie weiter in Darwins Meisterwerk las (es war ganz offenkundig ein Meisterwerk), wusste sie, dass diese Theorie ihm allein gehörte und ihm allein gehören musste. Selbst wenn sie sich als Erste dazu geäußert hätte, sie hätte sich doch niemals besser äußern können. Es war sogar denkbar, dass niemand ihr Beachtung geschenkt hätte, wenn sie mit dieser Theorie an die Öffentlichkeit gegangen wäre – nicht, weil sie unbekannt und eine Frau war (wenn ihr beides auch sicher nicht zum Vorteil gereicht hätte), sondern schlicht und einfach deshalb, weil sie die Welt niemals so eloquent hätte überzeugen können, wie Darwin es tat. Ihre wissenschaftliche Beweisführung war vollkommen, ihr Schreibstil jedoch nicht. Almas Abhandlung umfasste nur vierzig Seiten, Über die Entstehung der Arten dagegen mehr als fünfhundert, doch es stand außer Frage, dass Darwins Werk die ungleich angenehmere Lektüre war. Darwins Buch war ein Kunstwerk. Es war persönlich. Es war verspielt. Es las sich wie ein Roman.
Er nannte seine Theorie »natürliche Selektion«. Ein bestechend präziser Begriff, schlichter und zutreffender als Almas schwerfällige »Theorie der Veränderung durch Konkurrenz«. Und während er seine Argumente für die natürliche Selektion geduldig darlegte, vergriff sich Darwin niemals im Ton oder geriet in die Defensive. Er gab sich ganz und gar wie der nette Herr von nebenan. Er beschrieb dieselbe düstere, gewaltsame Welt, die auch Alma wahrnahm, eine Welt, in der ohne Unterlass getötet und gestorben wurde – doch in seiner Sprache lag nicht die Spur von Gewalt. Nie hätte Alma einen so sanften Schreibstil gewagt; sie hätte auch gar nicht gewusst, wie sie das anstellen sollte. Ihre Prosa glich einem Hammer; Darwins Prosa war wie ein Psalm. Er schwang kein Schwert in der Hand, sondern kam mit einer Kerze. Überdies ließ er auf jeder Seite das Göttliche durchschimmern – ohne dabei je ein einziges Wort über den Schöpfer zu verlieren! Er erzeugte einen Eindruck des Wundersamen, indem er schwärmerisch die Macht der Zeit pries. Er schrieb: »Der Geist kann nicht die ganze Grösse der Wirkung zusammenrechnen und begreifen, welche durch Häufung einer Menge kleiner Abänderungen während einer fast unendlichen
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