Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Sommer des Jahres 1858 brach an und mit ihm ein plötzliches großes Sterben. Der Kummer begann am letzten Tag des Monats Juni, als Alma einen Brief von ihrer Schwester erhielt, ein schreckliches Kompendium trauriger Nachrichten.
»Ich habe drei Todesfälle zu vermelden«, warnte Prudence sie gleich in der ersten Zeile. »Vielleicht, Schwester, solltest Du Dich zunächst setzen, ehe Du weiterliest.«
Alma setzte sich nicht. Sie blieb in der Tür der Van-Devender-Residenz an der Plantage Parklaan stehen und las die beklagenswerten Mitteilungen aus dem fernen Philadelphia, und die Hände zitterten ihr vor Schmerz.
Zuerst berichtete Prudence, dass Hanneke de Groot im Alter von siebenundachtzig Jahren gestorben sei. Die alte Wirtschafterin war in ihrem Zimmer im Keller von White Acre entschlafen, hinter den schützenden Gitterstäben ihres Privatverlieses. Es hatte den Anschein, dass sie im Schlaf gestorben war und nicht gelitten hatte.
»Wir können nicht ermessen, wie wir künftig ohne sie zurechtkommen sollen«, schrieb Prudence. »Ich brauche Dir ihre Güte und ihren Wert kaum in Erinnerung zu rufen. Sie war wie eine Mutter für mich, wie sie es, das weiß ich wohl, auch für Dich war.«
Doch kaum hatte man Hanneke tot aufgefunden, so schrieb Prudence weiter, da traf auch schon ein Botenjunge von George Hawkes auf White Acre ein, mit der Nachricht, Retta sei – »nach all diesen Jahren vom Wahnsinn bis zur Unkenntlichkeit verwandelt« – in ihrem Zimmer in der Griffon-Irrenanstalt verschieden.
Prudence schrieb: »Es fällt nicht leicht zu sagen, was man inniger beklagen soll: Rettas Tod oder ihr glückloses Leben. Ich bin bestrebt, mich an die Retta von einst zu erinnern, die so vergnügt und sorglos war. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich sie kaum noch als jenes Mädchen, das sie war, ehe ihr Verstand so fürchterlich umnachtete … denn es ist ja, wie ich bereits sagte, so lange her, und wir waren alle noch so jung.«
Darauf folgte die schockierendste Nachricht. Keine zwei Tage nach Rettas Tod, berichtete Prudence, war auch George Hawkes gestorben. Er war gerade aus der Anstalt zurückgekehrt, hatte eben noch Vorkehrungen für die Beisetzung seiner Frau getroffen, da war er auf der Straße vor seiner Druckerei zusammengebrochen. Er war siebenundsechzig Jahre alt.
»Ich muss Dich um Vergebung bitten, dass es mich mehr als eine Woche gekostet hat, diese traurigen Zeilen zu verfassen«, schloss Prudence, »doch mein Geist ist erfüllt von so vielen Gedanken und Sorgen, dass mir das Schreiben darüber schwer wurde. Man kann es kaum begreifen. Wir alle sind zutiefst erschüttert. Vielleicht habe ich aber auch so lange mit dem Brief gezögert, weil mich dieser Gedanke nicht losließ: Mit jedem Tag, den ich meiner armen Schwester die Nachricht vorenthalte, vergeht ein weiterer Tag, an dem sie sie nicht ertragen muss. Ich prüfe mein Herz, um darin auch nur das kleinste Körnchen Trost für Dich zu finden, und doch will es mir nicht recht gelingen. Ich finde ja selbst kaum Trost. Möge Gott der Herr sie alle zu sich nehmen und sich ihrer erbarmen. Bitte verzeih, ich weiß nicht mehr zu sagen. Mit der Schule steht es weiterhin zum Besten. Die Schüler entwickeln sich prächtig. Mr Dixon und die Kinder übersenden Dir ihre herzlichen Grüße – immer die Deine, Prudence.«
Nun setzte Alma sich doch und legte den Brief neben sich.
Hanneke, Retta und George – alle tot, auf einen Streich.
»Arme Prudence«, murmelte sie vor sich hin.
Wahrhaftig, arme Prudence, die George Hawkes nun für immer verloren hatte. Natürlich hatte sie ihn schon vor langer Zeit verloren, doch nun hatte sie ihn noch einmal verlieren müssen und dieses Mal auf ewig. Prudence hatte nie aufgehört, George zu lieben, so wie er nie aufgehört hatte, sie zu lieben – so hatte Hanneke es Alma erzählt. Und doch war George der armen Retta ins Grab gefolgt, auf ewig dem Los dieser unseligen kleinen Ehegattin verbunden, die er niemals geliebt hatte. All die vielen Möglichkeiten ihrer Jugendjahre, dachte Alma, und alles vergebens. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, wie sehr sich ihr eigenes Schicksal und das ihrer Schwester doch ähnelten: beide dazu verdammt, einen Mann zu lieben, den sie nicht besitzen konnten, und dennoch beide entschlossen, unverzagt weiterzuleben. Sicher, man tat, was man konnte, und es lag eine Würde in dieser stoischen Haltung, und doch gab es manchmal Momente, da war das Unglück der Welt kaum zu ertragen; und die
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