Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Anzahl von Generationen entstanden ist.« Er bestaunte die »herrlichen Verzweigungen« der Veränderung. Er machte die hübsche Beobachtung, dass die Wunder der Anpassung jede Kreatur auf Erden, selbst den geringsten Käfer, wertvoll, erstaunlich und »veredelt« erscheinen ließen.
Er fragte: »Welche Schranken kann man dieser Kraft setzen?«
Er schrieb: »Wir sehen das Antlitz der Natur in Heiterkeit strahlen …«
Und er schloss: »Es ist wahrlich eine grossartige Ansicht alles Lebens, das uns umgibt …«
Alma legte das Buch beiseite und erlaubte sich, zu weinen.
Angesichts einer so überragenden und niederschmetternden Leistung konnte sie nichts weiter tun als weinen.
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Im Jahre 1860 las alle Welt Über die Entstehung der Arten , und das Buch war in aller Munde, doch niemand las es aufmerksamer als Alma Whittaker. Sie schwieg zu sämtlichen Salon-Debatten über die natürliche Selektion – schwieg selbst noch, als ihre holländische Familie das Thema aufgriff –, doch sie verfolgte alles Wort für Wort. Sie besuchte jeden Vortrag und las jede Rezension, jeden Angriff, jede Kritik. Mehr noch, sie konsultierte auch das Buch immer wieder, aus Bewunderung ebenso sehr wie in der Absicht, ihm auf den Zahn zu fühlen. Schließlich war sie Wissenschaftlerin und wollte Darwins Theorie unter dem Mikroskop betrachten. Sie wollte ihre eigene Theorie an seiner messen.
Und selbstverständlich lautete ihre drängendste Frage, wie Darwin das Problem Prudence gelöst hatte.
Die Antwort war rasch gefunden: gar nicht.
Darwin hatte das Problem nicht gelöst, weil er mit einigem Geschick die Thematik der menschlichen Rasse in seinem Buch vollständig umging. Über die Entstehung der Arten handelte zwar von der Natur, jedoch nicht ausdrücklich vom Menschen. In dieser Hinsicht hatte Darwin seine Trümpfe mit Bedacht ausgespielt. Er schrieb über die Evolution des Finken, der Taube, des italienischen Windspiels, des Rennpferds und der Rankenfußkrebse – doch den Menschen erwähnte er nie. Er schrieb, dass »der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt«, verzichtete jedoch auf den Zusatz: »Auch wir sind Teil dieses Systems«. Wissenschaftlich bewanderte Leser würden diese Schlussfolgerung selbständig ziehen – dessen war Darwin gewiss. Auch religiös bewanderte Leser würden sie ziehen und als grässlichen Frevel betrachten – doch Darwin hatte de facto nichts dergleichen gesagt! Damit hatte er sich geschützt. Er konnte auf seinem ruhigen Landsitz in Kent verweilen und der allgemeinen Empörung in aller Unschuld begegnen: Was konnte eine harmlose Erörterung von Finken und Rankenfußkrebsen denn schaden?
Aus Almas Sicht stellte diese Strategie Darwins größten Geniestreich dar: Er hatte sich einfach nicht der ganzen Frage gewidmet. Vielleicht würde er dies zu einem späteren Zeitpunkt noch tun, doch jetzt, an dieser Stelle, in seiner gut durchdachten, ersten Abhandlung zur evolutionären Entwicklung, hatte er es nicht getan. Die Erkenntnis frappierte Alma, und sie hätte sich vor lauter sprachlosem Staunen beinahe an die Stirn geschlagen: Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass ein guter Wissenschaftler nicht immer gleich die ganze Frage angehen musste – ganz gleich, zu welchem Thema! Im Wesentlichen hatte Darwin getan, wovon Onkel Dees Alma jahrelang zu überzeugen versucht hatte: Er hatte eine wunderbare Entwicklungstheorie vorgelegt, doch nur für das Tier- und Pflanzenreich – und es somit den Menschen überlassen, ihre eigenen Ursprünge zu erörtern.
Sie wollte mit Darwin reden. Am liebsten wäre sie auf der Stelle über den Kanal nach England gereist, hätte sich in einen Zug nach Kent geworfen, an Darwins Tür geklopft und ihn gefragt: »Wie erklären Sie sich im Kontext der überbordenden Beweise für einen beständigen biologischen Kampf meine Schwester Prudence und das generelle Konzept der Opferbereitschaft?« Allein, alle Welt wollte inzwischen mit Darwin sprechen, und Alma verfügte nicht über den nötigen Einfluss, um eine Unterredung mit dem gefragtesten Wissenschaftler ihrer Tage zu arrangieren.
Nach und nach jedoch setzte sie für sich ein genaueres Bild Charles Darwins zusammen, aus dem hervorging, dass dieser Gentleman kein großer Debattierer war. Vermutlich hätte er von der Möglichkeit zu einem Streitgespräch mit einer unbedeutenden Moosforscherin aus Amerika gar nicht allzu viel gehalten. Vermutlich hätte er sie nur freundlich angelächelt und
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