Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
verschmähte jede Nahrung – sogar die wentelteefje , die Alma ihm eigenhändig zubereitete und mit denen sie ihn tränenüberströmt zu füttern versuchte. Er drehte sich nur zur Wand und schloss die Augen. Alma streichelte ihm den Kopf, sprach Tahitianisch mit ihm und erzählte ihm von seiner edlen Abstammung, doch er zeigte keine Regung. Wenige Tage später war auch Roger tot.
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Hätte in jenem Sommer des Jahres 1858 nicht eine schwarze Wolke des Todes Almas Welt verdunkelt, ihr wäre mit Sicherheit nicht entgangen, was sich am 1. Juli des Jahres in der Londoner Linné-Gesellschaft abspielte. Normalerweise legte sie größten Wert darauf, die Berichte von allen größeren wissenschaftlichen Zusammenkünften in Europa und Amerika zu lesen. Doch in jenem Sommer war sie – verständlicherweise – mit ihren Gedanken anderswo. Die Journale stapelten sich ungelesen auf ihrem Schreibtisch, während sie trauerte. Die wenige Kraft, die sie darüber hinaus noch aufbringen konnte, galt der Pflege ihrer Mooshöhle. Manch anderes blieb unbeachtet.
Und so entging es ihr.
Tatsächlich erfuhr sie erst davon, als sie im Jahr darauf eines Morgens Ende Dezember ihre Ausgabe der Times aufschlug und darin die Rezension eines neuen Buches von Mr Charles Darwin entdeckte. Es trug den Titel Über die Entstehung der Arten .
Kapitel 30
Charles Darwin war Alma natürlich ein Begriff; jeder kannte ihn. Er hatte 1839 ein außerordentlich beliebtes Buch über seine Reise zu den Galapagosinseln veröffentlicht. Das Buch – ein reizender Reisebericht – hatte ihm damals zu einigem Ruhm verholfen. Darwin schrieb mit leichter Hand, und es war ihm gelungen, seine Freude an der Welt der Natur in einen so ansprechenden, freundlichen Ton zu kleiden, dass er Leser jeden Milieus begeisterte. Alma entsann sich, Darwin damals für dieses Talent bewundert zu haben, denn ihr selbst wollte eine so unterhaltsame, demokratische Prosa nicht einmal annähernd gelingen.
Wenn sie jetzt daran zurückdachte, hatte Alma nach der Lektüre der Fahrt der Beagle vor allem eine Beschreibung von Pinguinen im Gedächtnis behalten, die bei Nacht durch das phosphoreszierende Meer schwammen und dabei, so schrieb Darwin, »glutrotes Kielwasser« durch die Dunkelheit zogen. Glutrotes Kielwasser! Die Formulierung hatte Alma zugesagt und war ihr die vergangenen zwanzig Jahre hindurch geblieben. Sogar auf ihrer Reise nach Tahiti hatte sie sich daran erinnert, in jener wundersamen Nacht an Bord der Elliot , als sie selbst das Meer leuchten sah. Viel mehr wusste sie jedoch nicht mehr von dem Buch, und auch Darwin hatte sich seither nicht mehr in bemerkenswerterer Weise hervorgetan. Nach seinen Reisen hatte er sich einem Leben der wissenschaftlichen Forschung gewidmet, dessen Ergebnis, wenn Alma sich nicht täuschte, ein solides, sorgsam verfasstes Werk über Rankenfußkrebse war. Sie wäre jedenfalls nie auf den Gedanken gekommen, ihn als den führenden Naturforscher seiner Generation zu betrachten.
Doch nun, bei der Lektüre der Rezension seines neuen, aufsehenerregenden Buches, musste Alma erfahren, dass Charles Darwin – dieser leise Kenner der Krebse, dieser sanftmütige Freund der Pinguine – sein Blatt bestens versteckt gehalten hatte. Denn wie sich herausstellte, hatte er der Welt etwas höchst Bemerkenswertes zu berichten.
Alma legte die Zeitung beiseite und stützte den Kopf in die Hände.
Glutrotes Kielwasser. Allerdings.
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Es kostete sie fast eine Woche, sich eine Ausgabe des Buches aus England zu beschaffen, und Alma watete durch diese Tage wie durch dichten Nebel. Sie hatte das Gefühl, auf die unerwarteten Ereignisse erst adäquat reagieren zu können, wenn sie – Wort für Wort – las, was Darwin selbst zu sagen hatte, und nicht nur das, was andere über ihn äußerten.
Das Buch traf am 5. Januar ein, Almas sechzigstem Geburtstag. Sie zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück, nahm ausreichend zu essen und zu trinken mit, um damit auf unbestimmte Zeit auszukommen, und schloss sich ein. Dann schlug sie Über die Entstehung der Arten auf der ersten Seite auf, vertiefte sich in Darwins elegante Prosa und stürzte von dort immer weiter hinab in eine tiefe Schlucht, von deren Wänden ihre eigenen Ideen widerhallten.
Natürlich hatte er ihre Theorie nicht gestohlen, das lag auf der Hand. Dieser abwegige Gedanke kam ihr nicht eine Sekunde lang in den Sinn – denn Charles Darwin wusste ja nicht von Alma Whittaker, konnte gar nicht von ihr wissen.
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