Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
jener Versammlung zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung übersehen, weil sie zu jener Zeit in tiefer Trauer war, doch nun holte sie alles nach und studierte die Aufzeichnungen gewissenhaft. Sogleich fiel ihr eine Eigentümlichkeit ins Auge: An jenem Tag war noch eine zweite Abhandlung vorgestellt worden, gleich nach der Präsentation von Darwins Werk. Diese trug den Titel »Über die Neigung der Varietäten, sich unbegrenzt vom ursprünglichen Typus zu entfernen« und war von einem gewissen A . R. Wallace verfasst worden.
Alma machte den Aufsatz ausfindig und las ihn. Wallace äußerte exakt dasselbe, was Darwin in seiner Theorie der natürlichen Selektion äußerte. Mehr noch, er äußerte exakt dasselbe, was Alma bereits in ihrer Theorie der Veränderung durch Konkurrenz geäußert hatte. Mr Wallace argumentierte, das Leben sei ein beständiger Kampf ums Dasein, es seien nicht genügend Ressourcen für alle vorhanden, die Populationen regulierten sich über natürliche Feinde, Krankheiten und Nahrungsknappheit, und die Schwächsten müssten stets als Erste ihr Leben lassen. Weiterhin schrieb Wallace in seinem Aufsatz, dass jede Variante, die das Ziel des Überlebens einer Art beeinflusse, letztendlich die ganze Art grundlegend verändere. Er schrieb, dass sich die erfolgreichsten Varianten durchsetzten, während die weniger erfolgreichen ausstürben. So entstünden Arten, veränderten sich, gediehen und verschwänden wieder.
Es war eine kurze, schlichte Abhandlung – und ihr Inhalt kam Alma ausgesprochen bekannt vor.
Wer war dieser Mensch?
Alma hatte nie zuvor von ihm gehört. Das war an und für sich bereits ein Ding der Unmöglichkeit, denn sie war eifrig bemüht, sämtliche Akteure in der Welt der Wissenschaft zu kennen. Sie schrieb an einige Kollegen in England und erkundigte sich: »Wer ist Alfred Russel Wallace? Was erzählt man sich über ihn? Und was hat sich im Juli 1858 in London zugetragen?«
Die Geschichten, die sie daraufhin erfuhr, machten sie nur umso neugieriger. Wallace, so hörte sie, stammte aus Monmouthshire an der walisischen Grenze, ein Sohn gutbürgerlicher Eltern, die jedoch der Armut anheimfielen; all sein Wissen hatte er sich mehr oder minder selbst angeeignet und den Beruf des Landvermessers ergriffen. Als abenteuerlustiger junger Mann hatte er diverse Urwälder erforscht und war zum unermüdlichen Sammler von Insekten und Vögeln geworden. 1853 hatte Wallace ein Buch über die Palmen des Amazonas und ihren Nutzen veröffentlicht, das Alma vollständig entgangen war, weil sie sich zu dieser Zeit auf der Reise von Tahiti nach Holland befand. Seit 1854 hielt er sich am Malayischen Archipel auf und erforschte Laubfrösche und dergleichen.
Dort, in den entlegenen Wäldern von Celebes, zog sich Wallace eine Malaria-Erkrankung zu, der er fast erlegen wäre. Vom Fieber geschüttelt, den Tod vor Augen, hatte er eine Erleuchtung: eine Theorie der Evolution auf der Grundlage des Kampfes ums Dasein. Innerhalb weniger Stunden hatte er diese Theorie niedergeschrieben. Er schickte die hastig verfasste Abhandlung auf den langen Postweg von Celebes nach England, an einen gewissen Charles Darwin, den er einmal kennengelernt hatte und dem er große Bewunderung zollte. Wallace fragte Mr Darwin unterwürfigst, ob seine evolutionäre Theorie irgendeinen Wert besitze. Es war eine ganz unschuldige Frage: Wallace konnte ja nicht ahnen, dass Darwin selbst bereits seit etwa 1840 fast identische Überlegungen anstellte. Mehr noch, Darwin hatte bereits an die zweitausend Seiten dessen verfasst, was einmal die Entstehung der Arten werden würde, seine Arbeit jedoch bisher einzig seinem guten Freund Joseph Hooker in den Königlichen Botanischen Gärten von Kew gezeigt. Hooker ermunterte Darwin schon seit Jahren zur Veröffentlichung, doch Darwin zögerte (was Alma bestens nachempfinden konnte), weil es ihm an Zuversicht und Gewissheit fehlte.
Nun aber war einer der gewaltigen Zufälle der Wissenschaftsgeschichte eingetreten, und es schien, als wäre Darwins wunderbare, ureigene Idee – mit der er sich im Stillen seit nahezu zwei Jahrzehnten befasste – am anderen Ende der Welt beinahe wortwörtlich von einem nahezu unbekannten, fünfunddreißigjährigen, malariakranken naturforschenden Autodidakten formuliert worden.
Almas Londoner Gewährsleute berichteten, Darwin habe sich nach Wallace’ Brief gezwungen gesehen, seine Theorie der natürlichen Selektion öffentlich zu machen, weil er fürchtete, das
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