Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
brachte ihre Gedanken in heftigen Aufruhr.
»Es verblüfft mich«, schrieb Anonymus in seiner Einführung, »dass wir von Geburt an mit wunderbaren Rohren und Löchern ausgestattet sind, von denen jedes kleine Kind weiß, dass sie Gegenstand größter Genüsse sein können, dass wir jedoch im Namen der Zivilisation vorgeben müssen, es seien Abscheulichkeiten – die wir bloß nicht berühren, bloß nicht teilen und an denen wir uns bloß nicht erfreuen dürfen! Doch warum sollten wir diese Geschenke des Körpers nicht erforschen, bei uns wie auch bei unseren Mitmenschen? Allein unser Denken hält uns von solchen Beglückungen ab, allein unser künstliches Verständnis von ›Zivilisation‹ verbietet uns derart einfache Freuden. Mein eigenes Denken, das einst hinter den Gittern des Anstands gefangen war, hat sich vor vielen Jahren durch die Erfahrung überwältigender Sinneslust befreien können. Ich stellte fest, dass man nicht nur den Ausdruck des Geistes, sondern auch den des Fleisches pflegen kann wie eine schöne Kunst, wenn man ihn nur mit der gleichen Hingabe betreibt wie die Musik, die Malerei oder Literatur.
Was auf den Seiten dieses Buches folgt, verehrte Leser, ist der ehrliche Bericht meiner lebenslangen erotischen Abenteuer. Der eine oder andere mag sie als verdorben bezeichnen, ich hingegen bin ihnen seit meiner Jugend freudig und, wie ich glaube, ohne Schaden nachgegangen. Wäre ich ein religiöser Mann, gefangen in den Fesseln der Scham, würde ich dieses Buch vielleicht als Bekenntnis bezeichnen. Doch ich teile diese Form von Schamgefühl nicht, und meine Forschungen haben gezeigt, dass es weltweit viele menschliche Gemeinschaften gibt, die der Sinnlichkeit nicht mit Scham begegnen. Inzwischen glaube ich, dass die Abwesenheit von Scham in Wahrheit den Naturzustand der menschlichen Gattung beschreibt – ein Zustand, der sich durch unsere Zivilisation in trauriger Weise deformiert hat. Aus diesem Grund bekenne ich meine ungewöhnliche Geschichte nicht, sondern enthülle sie lediglich. Ich hoffe und vertraue darauf, dass meine Enthüllungen wie ein unterhaltsamer Leitfaden gelesen werden, nicht nur von Gentlemen, sondern auch von wagemutigen, gebildeten Damen.«
Alma klappte das Buch zu. Sie kannte diese Stimme, diese Sprache. Natürlich kannte sie den Autor nicht persönlich, doch sie kannte diesen Typus Mann: ein gebildeter Homme de Lettres , wie sie häufig in White Acre dinierten. Der Autor gehörte zu der Sorte Männer, die mühelos vierhundert Seiten eines Buches mit naturphilosophischen Betrachtungen über die Heuschrecke füllen konnten; nur dass er hier beschlossen hatte, vierhundert Seiten über seine wollüstigen Abenteuer zu schreiben. Dieses Déjà-vu-Gefühl, diese seltsame Vertrautheit verwirrte Alma und reizte sie. Wenn eine Abhandlung dieser Art von einem seriösen Gentleman in seriöser Sprache verfasst worden war, musste sie dann nicht auch seriös sein?
Was hätte Beatrix dazu gesagt? Alma wusste sofort, dass Beatrix gesagt hätte, dieses Buch sei unstatthaft, gefährlich und abstoßend und im Übrigen ein Sammelsurium von Verwerflichkeiten. Sie hätte verlangt, es zu verbrennen. Und was würde Prudence tun, wenn sie solch ein Buch fände? Nun, Prudence würde es nicht mit der Kneifzange anfassen. Und wenn es doch irgendwie in ihre Hände gelangte, würde sie es pflichtbewusst zu Beatrix bringen, damit die es vernichten konnte. Anschließend würde sie klaglos die Strafe dafür hinnehmen, dass sie das Ding überhaupt berührt hatte. Aber Alma war nicht Prudence.
Was sollte sie also tun?
Alma beschloss, dass sie das Buch vernichten und niemandem etwas davon sagen würde. Ja, sie würde es vernichten. Gleich am Nachmittag. Ohne ein weiteres Wort darin zu lesen.
Sie schlug das Buch wieder auf, diesmal an einer beliebigen Stelle. Wieder begegnete ihr die vertraute, seriöse Stimme, doch das Thema war geradezu unglaublich.
»Ich wollte erfahren«, schrieb der Autor, »in welchem Alter eine Frau die Fähigkeit verliert, Fleischeslust zu empfinden. Der Bordellbesitzer, jener Freund, der mir in der Vergangenheit bei vielen Experimenten beigesprungen war, berichtete mir von einer Kurtisane, die ihrer Tätigkeit im Alter von vierzehn bis vierundsechzig Jahren mit Freude nachgegangen war und die nun, mit siebzig Jahren, in einer nahe gelegenen Stadt lebte. Ich schrieb der fraglichen Dame, und sie antwortete mir in einem Brief von bezaubernder Offenheit und Herzlichkeit. Innerhalb
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