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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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außerdem mit dir über Mr Edward Porters Benehmen am Esstisch sprechen. Wie dieser Mann dich angestarrt hat, Prudence, das solltest du nicht so lange dulden, wie du es tatest. Eine derartige Inanspruchnahme ist erniedrigend für alle Beteiligten. Du musst lernen, ein solches Verhalten bei Männern schon im Keim zu ersticken, indem du intelligent und unmissverständlich über ernsthafte Themen mit ihnen sprichst. Vielleicht wäre Mr Porter früher aus seiner närrischen Erstarrung erwacht, wenn du beispielsweise über den Russlandfeldzug mit ihm diskutiert hättest. Herzensgüte genügt nicht, Prudence. Du musst auch lernen, schlau zu sein. Als Frau wird dein moralisches Bewusstsein das der Männer natürlich immer übertreffen, doch wenn du zu deiner eigenen Verteidigung deinen Verstand nicht schärfst, wird dir deine Tugendhaftigkeit wenig nützen.«
    »Ich verstehe, Mutter«, sagte Prudence.
    »Nichts ist wichtiger als Würde, Mädchen. Die Zeit wird zeigen, wer sie hat und wem sie fehlt.«
    •
    Das Leben hätte angenehmer für die Whittaker-Mädchen sein können, wenn sie wie der Blinde und der Lahme gelernt hätten, einander zu helfen und sich zu ergänzen. Doch stattdessen humpelten sie schweigend nebeneinanderher, gezwungen, jede für sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten und Kümmernissen fertigzuwerden.
    Zumindest konnte man es den beiden und ihrer Mutter, die auf höflichen Umgang pochte, hoch anrechnen, dass sie stets liebenswürdig zueinander waren. Unwirsche Töne gab es nicht. Respektvoll untergehakt, teilten sie sich bei Regen den Schirm. Vor jeder Tür war die eine bereit, der anderen artig den Vortritt zu lassen. Sie boten sich freundlich das letzte Kuchenstück oder den besten Platz am warmen Ofen an. Zu Weihnachten machten sie sich kleine, aufmerksame Geschenke. Einmal kaufte Alma ihrer Schwester, die gern Blumen malte (wunderschön, wenn auch nicht präzise), ein hübsches Buch über Pflanzenillustrationen mit dem Titel Jeder Dame ihre Lehrstunde: Eine neue Abhandlung von der Blumenmalerei . Im selben Jahr nähte Prudence in Almas Lieblingsfarbe Aubergine ein exquisites Nadelkissen für sie. Beide versuchten also, zuvorkommend zu sein.
    »Vielen Dank für das Nadelkissen«, schrieb Alma in ihrem sorgfältig bedachten Dankesbriefchen. »Ich werde es gewiss immer benutzen, wenn ich eine Nadel benötige.«
    Jahr für Jahr achteten die Whittaker-Mädchen peinlich genau darauf, korrekt miteinander umzugehen, wenn auch vielleicht aus unterschiedlichen Motiven. Bei Prudence war dieses Bemühen um Korrektheit Ausdruck einer natürlichen Veranlagung. Bei Alma war es ein Kraftakt, ein permanentes, fast körperlich spürbares Unterdrücken ihrer niederen Instinkte, die sie aus moralischer Disziplin und aus Angst vor der mütterlichen Missbilligung niederrang. An guten Manieren fehlte es also nicht, und so schien in White Acre alles in bester Ordnung zu sein. Doch in Wahrheit stand eine gewaltige Mauer zwischen Alma und Prudence, die auch im Laufe der Zeit nicht kleiner wurde. Zumal niemand den beiden half, sie niederzureißen.
    An einem Wintertag, die Mädchen waren etwa fünfzehn Jahre alt, kam ein alter Freund von Henry, der im Botanischen Garten von Kalkutta tätig war, nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder nach White Acre. Während sich der Gast in der Eingangstür noch den Schnee vom Mantel schüttelte, rief er schon: »Henry Whittaker, du alter Fuchs! Zeig mir deine berühmte Tochter, von der ich so viel gehört habe!«
    Die Mädchen, die im Salon botanische Aufzeichnungen kopierten, konnten jedes Wort hören.
    »Alma!«, brüllte Henry mit Donnerstimme. »Komm sofort her! Jemand will dich sehen!«
    In froher Erwartung lief Alma ins Atrium. Der Fremde betrachtete sie einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Nein, du verfluchter Idiot, die meinte ich doch nicht! Ich wollte die Hübsche sehen!«
    »Ach so, du interessierst dich für unser kleines Schmuckstück«, erwiderte Henry ungerührt. »Prudence, komm doch mal her! Jemand will dich sehen!«
    Prudence huschte durch die Tür und stellte sich neben Alma, die glaubte, im Boden zu versinken wie in zähem Morast.
    »Na, bitte!«, sagte der Gast und taxierte Prudence. »Ja, sie ist wirklich eine strahlende Schönheit. Ich hatte schon gedacht, die Leute hätten vielleicht übertrieben.«
    Henry winkte ab. »Ach, ihr macht viel zu viel Wind um Prudence«, sagte er. »Für mein Gefühl ist die Unscheinbare zehn Mal mehr wert als

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