Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
die Hübsche.«
Gut möglich also, dass beide Mädchen gleichermaßen zu leiden hatten.
Kapitel 7
Das Jahr 1816 sollte als »Jahr ohne Sommer« in die Annalen eingehen, nicht nur in White Acre, sondern in großen Teilen der Welt. Vulkanausbrüche in Indonesien tauchten die Atmosphäre in Asche und Dunkelheit, was in Nordamerika zu Dürre und in weiten Teilen Europas und Asiens zu Frost und Hungersnöten führte. In New England fiel die Maisernte aus, in China verkümmerte der Reis, und in ganz Nordeuropa ging die Hafer- und Weizenernte verloren. Mehr als hunderttausend Iren verhungerten. Weil es kein Futter gab, kam es zu einem Massensterben von Pferden und Vieh. Es gab Hungerrevolten in Frankreich, England und der Schweiz. In der Stadt Quebec fielen im Juni dreißig Zentimeter Schnee. In Italien rieselte der Schnee braun und rot vom Himmel herab, was im Volk Entsetzen und apokalyptische Ängste auslöste.
Im Juni, Juli und August des Jahres 1816 war Pennsylvania in dichten, dunklen, eisigen Nebel gehüllt. Kaum etwas wuchs. Der darauffolgende Winter wurde sogar noch schlimmer. Tausende Familien verloren alles. Für Henry Whittaker war es indes kein schlechtes Jahr. In seinen Gewächshäusern hatten dank der Öfen die meisten tropischen Exoten im Halbdunkel überlebt, und das Risiko, mit normaler Landwirtschaft seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, war er nie eingegangen. Die meisten seiner Heilpflanzen wurden aus Südamerika importiert, wo das Klima noch gedeihlich war. Zudem machte das Wetter die Menschen krank, und kranke Menschen kauften mehr Arzneimittel. Insofern nahm Henry, was seine Pflanzen wie auch seine Finanzen betraf, keinerlei Schaden.
Nein, in jenem Jahr sicherte Henry mit Grundbesitzspekulationen nicht nur seinen Wohlstand, sondern entdeckte auch seine Begeisterung für alte Bücher. Die Farmer von Pennsylvania flohen Richtung Westen, um dort mehr Sonne, gesündere Böden und eine weniger unwirtliche Umgebung zu finden. Henry erwarb viele der Besitztümer, die diese zermürbten Menschen zurückließen, und konnte sich hervorragende Mühlen, Wälder und Weideflächen aneignen. Zahlreiche Familien von Rang und Namen standen in jenem Jahr vor dem Ruin, gefangen in der Spirale wirtschaftlichen Niedergangs, die das miserable Wetter mit sich brachte. Aus Henrys Sicht waren es immer wieder großartige Neuigkeiten. Jedes Mal, wenn eine wohlhabende Familie vor dem Scheitern stand, konnte er mit beträchtlichen Preisabschlägen ihr Land, ihren Hausrat, ihre Pferde, ihre guten französischen Sättel und persischen Textilien kaufen und – was ihn besonders erfreute – auch ihre Bibliotheken.
Henrys anfängliche Marotte, prachtvolle Bücher zu kaufen, war im Laufe der Jahre fast zur Sucht geworden. Es war eine eigentümliche Manie, schließlich konnte der Mann schon englische Texte kaum lesen, geschweige denn, sagen wir, Catull. Doch Henry wollte diese Bücher gar nicht lesen; er wollte sie lediglich besitzen, als Beutefang für seine wachsende Bibliothek. Medizinische Bücher, philosophische Bücher, exzellent illustrierte botanische Bücher, er lechzte nach fast allem. Er wusste, dass die Folianten und sonstigen Bände die Besucher von White Acre mindestens genauso blendeten wie die tropischen Schätze seiner Gewächshäuser. Er hatte es sich sogar zur Gewohnheit gemacht, zum Auftakt seiner Abendeinladungen ein wertvolles Buch auszuwählen (oder vielmehr von Beatrix auswählen zu lassen), das er seinen versammelten Gästen präsentierte. Besondere Freude bereitete ihm dieses Ritual, wenn berühmte Koryphäen unter den Geladenen waren, denen vor neidischem Entzücken fast schwindelig wurde. Die wenigsten Gelehrten rechneten damit, in White Acre einen Erasmus aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert in den Händen halten zu dürfen, die Doppelseiten in Griechisch wie auch Lateinisch bedruckt.
Beim Erwerb all dieser Bücher war Henry gierig und unersättlich. Er kaufte sie nicht einzeln, Band für Band, sondern kistenweise. Natürlich mussten die Bücher sortiert werden, und natürlich war Henry dafür nicht der richtige Mann. So war diese körperlich und geistig ermüdende Aufgabe schon seit Jahren Beatrix zugefallen: Unablässig durchforstete sie Berge von Druckwerke, um die Juwelen zu behalten und den Schund der Volksbücherei von Philadelphia zu geben. Doch im August des Jahres 1816 war Beatrix ins Hintertreffen geraten. Die Bücher kamen so schnell, dass sie mit dem Sortieren nicht Schritt halten
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