Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
konnte. In den ungenutzten Räumen der Remise standen inzwischen einige randvolle Truhen, die noch gar nicht geöffnet worden waren. Wöchentlich gab es neue Glücksfälle, dank derer ganze Privatbibliotheken in White Acre eintrafen. Immer mehr vornehme Familien erlebten den finanziellen Zusammenbruch, und so war die Sammlung kurz davor, in einem nicht mehr zu beherrschenden Chaos zu versinken.
Deshalb entschied Beatrix, dass ihr jemand beim Durchsehen und Katalogisieren der Bücher helfen müsse. Die Wahl fiel selbstredend auf Alma. Prudence war in diesen Dingen nicht hilfreich. Für Griechisch war sie völlig und für Lateinisch praktisch unbrauchbar; zudem konnte man ihr kaum begreiflich machen, dass die botanischen Bücher akribisch in Editionen vor 1753 und nach 1753 unterteilt werden mussten, mit anderen Worten in die Zeit vor und nach Erscheinen der Linné ’ schen Systematik. Alma hingegen, inzwischen sechzehn Jahre alt, machte sich mit Feuereifer daran, in der Bibliothek von White Acre für Ordnung zu sorgen, und erwies sich dabei als überaus tüchtig. Sie besaß solide historische Kenntnisse der Inhalte, mit denen sie zu tun hatte, und sie war flink und gewissenhaft im Anlegen von Registern. Alma war außerdem kräftig genug, die schweren Kisten und Kästen herumzutragen. Ferner war das Wetter im Jahre 1816 so schlecht, dass es wenig Vergnügen bereitete, sich draußen aufzuhalten, und es im Garten kaum etwas zu ernten gab. So betrachtete Alma ihr Tun in der Bibliothek als eine Art häusliche Gartenarbeit, die ihre Muskeln in Bewegung hielt und schöne Früchte trug.
Alma stellte sogar fest, dass sie ein Talent fürs Reparieren von Büchern besaß. Durch ihre Erfahrungen im Aufbereiten von Pflanzenproben war sie geschickt im Umgang mit den Materialien in der Buchbindekammer, einem winzigen, abgedunkelten Raum hinter einer verdeckten Tür gegenüber der Bibliothek. Dort verwahrte Beatrix mit Papier, Stoff, Leder, Wachs und Leim die Hilfsmittel, die es brauchte, um die alten, fragilen Editionen aufzuarbeiten. Alma erledigte ihre Aufgabe so gut, dass Beatrix ihrer Tochter bald die ganze Verantwortung für die Bibliothek von White Acre übertrug, nicht nur für das Aussortieren, sondern für die komplette Sammlung. Beatrix war korpulent geworden und zu müde, um noch die Leitern der Bibliothek zu erklimmen. Sie hatte genug von dieser Arbeit.
Möglicherweise hätte man sie fragen können, ob sie es für richtig hielt, ein ehrbares, unverheiratetes Mädchen von sechzehn Jahren ohne jede Aufsicht einer Schwemme von unzensierten Büchern auszusetzen und darauf zu vertrauen, dass es sich allein einen Weg durch diese unübersehbare Flut von ungezügelten Ideen bahnte. Wir können hier nur Vermutungen anstellen. Vielleicht glaubte Beatrix, ihre erzieherische Arbeit erfolgreich abgeschlossen und Alma zu einer jungen Frau geformt zu haben, die anständig und pragmatisch genug war, verderblichen Ideen zu widerstehen. Oder Beatrix hatte nicht bedacht, auf welche Art von Büchern Alma in diesen ungeöffneten Truhen stoßen könnte. Oder sie glaubte, Alma sei durch ihr reizloses, plumpes Äußeres immun gegen die Gefahren der … nennen wir es beim Namen … Sinneslust. Oder aber Beatrix, die auf die fünfzig zuging und an episodischen Schwindelanfällen und Zerstreutheit litt, war einfach nur nachlässig geworden.
Wie auch immer es sich verhielt, de facto war Alma Whittaker sich selbst überlassen. Und so fand sie das Buch.
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Aus wessen Bibliothek es stammte, erfuhr sie nie. Alma entdeckte es in einer unbeschrifteten Kiste, inmitten einer ansonsten unauffälligen Sammlung von Büchern, die größtenteils medizinischer Natur waren – einige Standardwerke von Galenos, einige jüngere Übersetzungen von Hippokrates, nichts Neues oder Aufregendes. Doch dazwischen befand sich ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band, der den Titel Cum Grano Salis trug und von einem anonymen Autor verfasst war. Ein lustiger Titel: Mit einer Prise Salz . Zunächst dachte Alma, es sei eine Abhandlung vom Kochen, ähnlich dem im fünfzehnten Jahrhundert in Venedig entstandenen Nachdruck des aus dem vierten Jahrhundert stammenden Buches De Re Coquinaria , über den die Bibliothek von White Acre bereits verfügte. Doch ein rasches Durchblättern zeigte, dass dieses Buch auf Englisch geschrieben war und keinerlei Illustrationen oder Listen enthielt, die sich an Köche richteten. Alma schlug die erste Seite auf, und was sie dort las,
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