Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Mädchen. Für Alma war dies fürchterlicher als jede Schelte, denn das mütterliche Schweigen barg eine Vielzahl von schreckenerregenden Möglichkeiten. Es gab nichts, was Beatrix nicht hätte wissen können. Inzwischen hatte Alma so lange an ihrem Taschentuchzipfel gerissen, dass er nur noch aus losen Fäden bestand. An Prudence’ Haltung und Contenance hatte sich hingegen nichts verändert.
»Ich bin heute Abend erschöpft«, brach Beatrix schließlich ihr ehrfurchtgebietendes Schweigen. Sie blickte Alma an. »Deshalb bin ich nicht gewillt, über deine Unzulänglichkeiten zu sprechen, Alma. Es würde meiner Gemütslage lediglich weiteren Schaden zufügen. Lass mich nur so viel sagen: Wenn ich jemals wieder erleben muss, dass du wie heute kopflos und mit offenem Mund an unserer Tafel sitzt, werde ich dich bitten, deine Mahlzeiten anderswo einzunehmen.«
»Aber Mutter …«, setzte Alma an.
»Rechtfertige dich nicht, Tochter. Das ist wehleidig.«
Beatrix wandte sich zum Gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um, als hätte sie etwas vergessen, und richtete ihren Blick auf Prudence.
»Prudence«, sagte sie. »Ausgezeichnete Vorstellung heute Abend.«
Das war nun wirklich noch nie da gewesen. Beatrix lobte nicht. Nie. Aber gab es überhaupt etwas, das an diesem Tag nicht ungewöhnlich war? Alma sah Prudence verblüfft an. Wieder suchte sie etwas. Anerkennung? Mitleid? Geteiltes Erstaunen? Doch Prudence ließ nichts erkennen, und so gab Alma es auf. Sie erhob sich und ging Richtung Treppe, Richtung Bett. Am Fuß der Treppe drehte sie sich noch einmal zu Prudence um und sagte etwas, das sie selbst überraschte.
»Gute Nacht, Schwester.« Dieses Wort hatte sie noch nie benutzt. »Das wünsche ich dir auch«, antwortete Prudence. Mehr nicht.
Kapitel 8
Zwischen dem Winter des Jahres 1816 und dem Herbst des Jahres 1820 verfasste Alma Whittaker mehr als drei Dutzend Aufsätze für George Hawkes, die der Verleger allesamt in seiner Monatszeitschrift Botanica Americana veröffentlichte. Ihre Aufsätze waren nicht zukunftsweisend, doch ihre Ideen gescheit, ihre Illustrationen fehlerfrei und ihre botanischen Fachkenntnisse solide und überzeugend.
Sie schrieb ausführliche Texte über Lorbeer, Mimosen und Verbena. Sie schrieb über Weintrauben und Kamelien, über die myrtenblättrige Orange und das Hegen und Pflegen von Feigenbäumen. Sie veröffentlichte alles unter dem Namen »A. Whittaker«. Weder Alma noch George Hawkes glaubten, dass es ihr in irgendeiner Weise zugutekommen würde, sich als Frau zu erkennen zu geben. Unter Wissenschaftlern herrschte immer noch eine strenge Unterteilung in die »Botanik« (das von Männern betriebene Studium der Pflanzen) und die »schöne« Botanik (das von Frauen betriebene Studium der Pflanzen). Häufig war die »schöne« Botanik zwar von der Botanik als solcher praktisch nicht zu unterscheiden – außer dass der eine Bereich mit Respekt betrachtet wurde und der andere nicht –, doch eben darum wünschte Alma nicht, als Vertreterin der schönen Botanik abgetan zu werden.
Unter Pflanzenkennern und Wissenschaftlern war »Whittaker« natürlich ein klangvoller Name, folglich wussten zahlreiche Botaniker sehr genau, wer »A. Whittaker« war. Aber auch nicht jeder. In Erwiderung auf ihre Artikel erhielt Alma gelegentlich Briefe von Botanikern aus aller Welt, die zu ihren Händen an George Hawkes’ Druckerei adressiert waren. Einige dieser Briefe begannen mit »Mein lieber Sir«. Andere richteten sich an »Mr A. Whittaker«. Ein denkwürdiges Schreiben war sogar an »Dr. A. Whittaker« adressiert. Amüsiert und erfreut über den unverhofften Ehrentitel, verwahrte Alma diesen Brief längere Zeit.
Da sich George und Alma über Forschungsinhalte austauschten und gemeinsam an Aufsätzen arbeiteten, war der Verleger immer häufiger Gast in White Acre. Erfreulicherweise ließ seine Schüchternheit im Laufe der Zeit nach. Am Esstisch ergriff er regelmäßig das Wort und gab manchmal sogar ein Bonmot zum Besten.
Prudence hingegen sagte beim Dinner nie wieder ein Wort. Ihr verbaler Ausbruch zugunsten der Schwarzen am Abend von Professor Pecks Besuch war offenbar über sie gekommen wie ein vorübergehender Fieberanfall, denn sie beließ es bei diesem einen Mal und forderte nie wieder einen Gast heraus. Seitdem hatte sich Henry immer wieder über Prudence’ Ansichten lustig gemacht, indem er sie »unsere schwarze Kriegerin« nannte, doch sie weigerte sich, jemals wieder über das
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