Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Ihren Artikel diese Woche zukommen zu lassen«, schlug George vor, »würde ich in Erwägung ziehen, ihn zu veröffentlichen.«
Alma war so entzückt über dieses unerwartete Angebot (und so verwirrt über die wunderlichen Ereignisse des Tages und so aufgewühlt, hier in diesem Salon mit dem Mann zu sprechen, der eben noch Ziel ihrer fleischlichen Gedanken gewesen war), dass sie nicht ein einziges Mal innehielt, um über den wohl seltsamsten Aspekt dieser Unterhaltung nachzudenken: die Rolle ihrer Schwester Prudence. Warum war Prudence eigentlich dabei? Und vor allem: Warum dieses Nicken, mit dem ihre Schwester George Hawkes bedeutet hatte, das Wort zu ergreifen? Wann und wo hatte Prudence ohne Almas Wissen Gelegenheit gehabt, mit ihm über ihre privaten Forschungsprojekte zu sprechen? Seit wann nahm Prudence von diesen Forschungsprojekten überhaupt Notiz?
An jedem anderen Abend hätten diese Fragen Alma nicht losgelassen und ihre Neugier geweckt, doch an diesem Abend verweigerte sie ihnen jegliche Aufmerksamkeit. An diesem Abend, mit dem der wohl seltsamste und verstörendste Tag ihres Lebens zu Ende ging, drehte sich ein so wildes Gedankenkarussell in ihrem Kopf, dass sie nichts anderes wahrnahm. Müde, entrückt und ein bisschen benommen, wünschte sie George Hawkes eine gute Nacht. Sie blieb mit ihrer Schwester allein im Salon zurück und wartete auf Beatrix, die bald kommen und ihnen die Leviten lesen würde.
Der Gedanke an Beatrix schmälerte Almas Euphorie. Die abendlichen Zurechtweisungen ihrer Mutter waren selten ein Genuss, doch nun fürchtete sich Alma noch mehr als sonst vor Beatrix’ Strafpredigt. Die Entdeckung des Buches, die Gefühle, die es erweckt hatte, Almas einsame Leidenschaft in der Bindekammer … an diesem Tag war so viel geschehen, dass Alma glaubte, das schlechte Gewissen müsse ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Sie fürchtete, dass ihre Mutter es irgendwie spüren würde. Ferner war das Tischgespräch an diesem Abend desaströs gewesen: Alma hatte sich als Dummchen präsentiert, während Prudence ein noch nie dagewesenes, nahezu unhöfliches Verhalten an den Tag gelegt hatte. Beatrix würde mit beiden unzufrieden sein.
Schweigsam wie Nonnen warteten Alma und Prudence auf ihre Mutter. Immer wenn sie allein waren, herrschte Stille. Behagliche Gespräche hatten sich nie eingestellt. Noch nie hatten sie miteinander geplaudert, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Prudence hatte ruhig die Hände gefaltet, während Alma mit dem Saum eines Taschentuchs spielte. Sie warf Prudence einen kurzen, forschenden Blick zu, auf der Suche nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Kameradschaft vielleicht. Wärme. Irgendeine Form von Nähe. Vielleicht einen versteckten Hinweis auf das, was an diesem Abend geschehen war. Doch Prudence ließ in ihrer geradezu überirdischen Schönheit keine Vertrautheit aufkommen. Alma beschloss, es trotzdem zu versuchen.
»Die Gedanken, denen du heute Abend Ausdruck verliehen hast, Prudence«, fing sie an. »Wie und wo sind sie dir zu Gehör gekommen?«
»Größtenteils durch Mr Dixon. Das Elend der afrikanischen Rasse ist eins der bevorzugten Themen unseres redlichen Hauslehrers.«
»Tatsächlich? Ich habe ihn nie über derartige Dinge sprechen hören.«
»Gleichwohl ist es eine Sache, die starke Gefühle bei ihm erweckt«, erwiderte Prudence mit unveränderter Miene.
»Wirklich? Dann ist er Abolitionist?«
»Ja.«
»Ach, du lieber Himmel!« Alma war verblüfft, dass überhaupt irgendetwas starke Gefühle bei Arthur Dixon erwecken konnte.
»Mutter weiß es«, fügte Prudence hinzu.
»Wirklich? Und was ist mit Vater?«
Prudence antwortete nicht. Alma hatte noch mehr Fragen, einen ganzen Berg von Fragen, doch Prudence schien nicht erpicht auf eine Fortsetzung des Gesprächs. Wieder wurde es still. Und mit einem Mal platzte Alma mit einer ungestümen, unbedachten Frage heraus, welche die Stille zerriss.
»Prudence«, fragte sie, »was denkst du über Mr George Hawkes?«
»Ich halte ihn für einen respektablen Gentleman.«
»Und ich glaube, ich bin bis über beide Ohren in ihn verliebt!«, rief Alma, die über dieses absurde, unerwartete Geständnis selbst vielleicht am meisten erschrak.
Noch ehe Prudence antworten konnte – sofern sie überhaupt jemals geantwortet hätte –, kam Beatrix in den Salon und blickte zum Diwan, auf dem ihre Töchter saßen. Mit strenger, unnachgiebiger Miene musterte sie erst das eine, dann das andere
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