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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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zauberhafte Lektion Sie mir da erteilt haben, Mrs Whittaker! Welch neuer Blick! Sie haben absolut recht! Nie wieder werde ich den Tod einer Großmutter als Tragödie auffassen!«
    Man konnte beinahe zusehen, wie die Tränen auf Rettas Wangen den Rückzug antraten und sich alsbald verflüchtigt hatten.
    »Aber nun muss ich mich empfehlen«, sagte Retta, frisch wie der junge Morgen. »Ich beabsichtige, heute Abend einen Spaziergang zu machen, deshalb muss ich heimkehren und mich mit der Wahl meines Hutes befassen. Ich liebe das Spazierengehen, Mrs Whittaker, jedoch nicht mit der falschen Kopfbedeckung, was Sie gewiss verstehen können.« Retta streckte Beatrix die Hand entgegen, eine Geste, die Beatrix ihr nicht abschlagen konnte. »Mrs Whittaker, dies war eine überaus nützliche Begegnung! Ich finde kaum Worte, um Ihnen gebührend für Ihre Klugheit zu danken. Sie sind ein Salomon unter den Frauen, und es ist kaum verwunderlich, dass Ihre Kinder Sie so bewundern. Stellen Sie sich vor, Sie wären meine Mutter, Mrs Whittaker – stellen Sie sich nur vor, wie dumm ich dann nicht wäre! Meine Mutter – Sie werden betrübt sein, dies zu hören – hat zeit ihres Lebens nicht einen vernünftigen Gedanken gefasst. Schlimmer noch, sie schmiert sich das ganze Gesicht so dick mit Wachs, Paste und Puder ein, dass sie ganz und gar den Anschein erweckt, eine Schneiderpuppe zu sein. Bedenken Sie nur mein Unglück – großgezogen von einer ungebildeten Schneiderpuppe und nicht von Ihresgleichen! Wohlan, ich gehe nun!«
    Womit sie von dannen tänzelte, während Beatrix ihr mit offenem Mund nachstarrte.
    »Welch eine lächerliche Erscheinung«, murmelte sie, als Retta fort war und im Haus wieder Stille herrschte.
    Alma wagte es, etwas zur Verteidigung ihrer einzigen Freundin einzuwerfen: »Sie ist ohne jeden Zweifel lächerlich, Mutter. Doch ich glaube, sie hat ein gütiges Herz.«
    »Ihr Herz mag gut sein oder auch nicht, Alma. Gott allein kann darüber urteilen. Doch ihr Gesicht ist ohne jeden Zweifel töricht. Offenbar versteht sie es, ihm jeden erdenklichen Ausdruck zu verleihen, nur nicht den von Intelligenz.«
    Gleich am nächsten Tag kehrte Retta nach White Acre zurück und begrüßte Beatrix Whittaker heiter und unbefangen, als wäre nie etwas vorgefallen. Sie überreichte ihr sogar ein kleines Blumensträußchen – gepflückt in den Gärten von White Acre, was eine durchaus kühne Vorgehensweise war. Wie durch ein Wunder nahm Beatrix den Strauß kommentarlos entgegen. Von diesem Tage an wurde Retta Snows Anwesenheit in White Acre allzeit geduldet.
    Für Alma war die Zähmung der Beatrix Whittaker Rettas imponierendste Leistung. Es hatte fast etwas von Hexerei. Dass es so schnell geschehen war, machte es umso bemerkenswerter. Irgendwie war es Retta in einem einzigen, tollkühnen Handstreich gelungen, Gnade vor den Augen der Matriarchin zu finden, so dass sie nun jederzeit über freies Besuchsrecht verfügte. Wie hatte sie das gemacht? Alma konnte es nicht mit Gewissheit sagen, doch sie hatte Vermutungen. Zunächst einmal war es generell schwierig, Retta Einhalt zu gebieten. Des Weiteren wurde Beatrix langsam älter, ihre Kräfte ließen nach, und sie war in diesen Tagen weniger geneigt, für die Durchsetzung ihrer Prinzipien bis aufs Blut zu kämpfen. Vielleicht war Almas Mutter den Retta Snows dieser Welt einfach nicht mehr gewachsen. Der wichtigste Grund war freilich folgender: Almas Mutter konnte Unfug in welcher Form auch immer nicht leiden, und sie war zweifelsohne schwer zugänglich für Schmeicheleien, doch Retta Snow hätte wohl kaum etwas Besseres tun können, als Beatrix Whittaker einen »Salomon unter den Frauen« zu nennen.
    Vielleicht war das Mädchen gar nicht so dumm, wie es den Anschein hatte.
    Und so blieb Retta. Während der August des Jahres 1819 ins Land ging, geschah es häufig, dass Alma, wenn sie am frühen Morgen in ihrem Studierzimmer eintraf, um an einem botanischen Projekt zu arbeiten, feststellen musste, dass Retta bereits dort war und – in einer Ecke des alten Diwans zusammengerollt – die Illustrationen der letzten Ausgabe von Joy’s Lady’s Book betrachtete.
    »Oh, hallo, Liebchen!«, zwitscherte Retta dann und begrüßte Alma so strahlend, als hätten sie beide ein Treffen vereinbart.
    Im Laufe der Zeit erschrak Alma nicht mehr über Rettas Anwesenheit. Schließlich benahm sich ihre Freundin nicht so, dass sie ihr zur Last fiel. Niemals berührte sie eines der wissenschaftlichen

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