Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
weil ich in musikalischen Dingen miserabel bin, aber immerhin habe ich die erste Strophe verfasst. Ich finde, sie gibt unsere Freundschaft geradezu perfekt wieder. Was meinen Sie?« Retta räusperte sich und hob an:
»Fiedel, Gabel, Löffel, das sind genau wir drei,
wir tanzen mit dem Monde, ist uns doch einerlei,
willst einen Kuss uns stehlen,
so lass dir eins empfehlen:
stiehl ihn dir lieber bald!«
Alma kam kaum dazu, über diesen eigenartigen Reim nachzusinnen (und sich zu fragen, wer wohl die Fiedel, wer die Gabel und wer der Löffel war), da brach Prudence bereits in schallendes Gelächter aus. Ein bemerkenswerter Vorgang, denn eigentlich lachte Prudence nie. Ihr Lachen war überwältigend, ungestüm und laut – ganz und gar nicht das, was man von einem so puppenhaften Wesen wie Prudence erwartet hätte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, als sie endlich aufgehört hatte zu lachen.
»Ich bin Retta Snow, Madam, und ich bin Ihre neue, ewigliche Freundin.«
»Nun, Retta Snow«, erwiderte Prudence, »ich glaube fast, Sie sind auch eine ewiglich verrückte Person.«
»Das sagt jeder!«, entgegnete Retta mit einer schwungvollen Verbeugung. »Aber wie dem auch sei – hier bin ich!«
•
Und wie sie das war!
Schon bald gehörte Retta Snow in White Acre gewissermaßen zum Inventar. Als Kind hatte Alma einmal eine kleine Katze gehabt, die das Anwesen auf ähnliche Weise erobert hatte. Eines sonnigen Tages war dieses Kätzchen – ein hübsches kleines Ding mit hellbraunen Streifen – aufgetaucht und mir nichts, dir nichts in die Küche von White Acre spaziert, hatte sich an allen Beinen gerieben und sich sodann, den Schwanz behaglich um den Körper gerollt, leise schnurrend und mit halbgeschlossenen Augen neben dem Herd niedergelegt. Von diesem kleinen Geschöpf ging eine so wohlige Zuversicht aus, dass niemand das Herz hatte, ihm vor Augen zu führen, dass es eigentlich nicht dazugehörte; folglich dauerte es nicht lange, bis es tatsächlich dazugehörte.
Rettas Strategie war ähnlich. An jenem Tag tauchte sie in White Acre auf, machte es sich behaglich, und mit einem Mal schien es, als wäre sie schon immer da gewesen. Genaugenommen hatte niemand sie jemals eingeladen, doch eine junge Dame wie Retta war nicht auf Einladungen angewiesen. Sie kam, wann immer sie wollte, blieb, solange es ihr gefiel, nahm sich, wonach ihr gerade war, und trollte sich, wenn sie fertig war.
Retta Snow führte ein Leben, dem in geradezu schockierender und doch auch beneidenswerter Weise die starke Hand fehlte. Ihre Mutter war in der feinen Gesellschaft eine feste Größe: Mrs Snows Vormittage dienten stundenlangem Sichankleiden, ihre Nachmittage den Besuchen anderer Gesellschaftsgrößen, und abends war sie mit Tanzveranstaltungen geradezu überlastet. Ihr Vater, ein ebenso nachsichtiger wie aushäusiger Mann, kaufte seiner Tochter zu guter Letzt ein verlässliches Kutschpferd und eine kleine, zweirädrige Chaise, in der das Mädchen nach weithin eigenem Ermessen durch Philadelphia vagabundierte. So verbrachte Retta ihre Tage damit, durch die Welt zu tingeln wie ein munter von Blume zu Blume schwirrendes Bienchen. Wenn ihr der Sinn nach einem Theaterbesuch stand, ging sie ins Theater. Wenn ihr der Sinn danach stand, einen Festzug zu sehen, fand sie einen Festzug. Und wenn Retta Snow der Sinn danach stand, einen Tag in White Acre zu verbringen, dann tat Retta Snow genau dies, und zwar ganz nach ihrem Belieben.
Im Laufe des nächsten Jahres geschah es immer wieder, dass Alma sie in White Acre an den ungewöhnlichsten Orten vorfand: In der Käserei, wo sie von einem Fass herab eine Szene aus Die Lästerschule deklamierte und damit die Milchmägde zum Lachen brachte. Am Bootsanleger, wo sie die Beine ins ölige Wasser des Schuylkill baumeln ließ und tat, als angelte sie mit den Zehen nach Fischen. Oder im Herrenhaus beim beherzten Zerschneiden ihres schönsten Umhängetuchs, zu dem sich eines der Hausmädchen bewundernd geäußert hatte (»Schau, nun hat jede von uns ein Stück Tuch, jetzt sind wir Zwillinge!«). Niemand wusste, was er mit ihr anstellen sollte, doch es jagte sie auch niemand fort. Was weniger daran lag, dass Retta die Menschen bezauberte; es war wohl eher ein Ding der Unmöglichkeit, sich ihrer zu erwehren. Man hatte keine andere Wahl, als zu kapitulieren.
Retta gelang es sogar, Beatrix Whittaker für sich zu gewinnen, was eine wahrhaft beachtliche Leistung war. Jeder vernünftige Mensch hätte prophezeit, dass
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