Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
das Anwesen der Snows verließen, um gemeinsam den Rückweg anzutreten, wurde es wieder still zwischen ihnen. Alma hoffte ein ums andere Mal, dass sie lernen würden, auch unabhängig von Retta herzlich und innig miteinander zu sein, doch es half alles nichts. Sämtliche Versuche, auf dem langen Heimweg die Späße und Scherze des Nachmittags wieder aufleben zu lassen, riefen nur hölzernes Unbehagen und Befangenheit hervor.
Im Februar des Jahres 1820 tat Alma – durch die Tollheiten des Tages ermuntert – auf einem dieser Fußmärsche einen gewagten Schritt. Sie traute sich abermals, ihre Zuneigung zu George Hawkes zu erwähnen. Insbesondere verriet sie Prudence, dass George einmal von ihrem meisterhaften Umgang mit dem Mikroskop gesprochen und wie sehr ihr dies geschmeichelt habe. »Ich hätte gern eines Tages jemanden wie George Hawkes zum Ehegatten«, gestand sie. »Einen guten Mann, der mich in all meinem Streben ermutigt und den ich bewundern kann.«
Als nach längerem Schweigen mit einer Antwort von Prudence nicht mehr zu rechnen war, ging Alma noch weiter: »Ich denke ständig an ihn, Prudence. Manchmal stelle ich mir sogar vor, ihn … zu umarmen.«
Eine waghalsige Erklärung, aber verhielten sich Schwestern denn nicht so? Redeten nicht in ganz Philadelphia normale Mädchen mit ihren Schwestern über die Verehrer, die sie sich wünschten? Offenbarten sie einander nicht die Hoffnungen, die ihr Herz bewegten? Sprachen sie nicht darüber, wie sich der Ehemann ihrer Träume ausnehmen sollte?
Doch Almas Versuch, Nähe herzustellen, fruchtete nicht.
»Aha«, erwiderte Prudence lediglich und fügte dem nichts mehr hinzu. Den restlichen Heimweg nach White Acre legten sie in gewohnter Stille zurück. Alma begab sich in ihr Studierzimmer, um die Arbeit zu Ende zu führen, aus der Retta sie an diesem Morgen gerissen hatte, und Prudence verschwand, wie sie es häufig tat, um sich unbekannten Tätigkeiten zu widmen.
Nie wieder versuchte Alma, sich ihrer Schwester mit solchen Bekenntnissen zu nähern. Die geheimnisvolle Tür, die durch Rettas Einwirken aufsprang, fiel zu, sobald die Schwestern allein waren. Es war hoffnungslos. Manchmal konnte sich Alma freilich des Gedankens nicht erwehren, dass ihr Leben vielleicht anders ausgesehen hätte, wenn auch Retta ihre und Prudence’ Schwester gewesen wäre – die jüngste, dritte, törichte Schwester, der man mit Nachsicht begegnete, weil sie mit ihrer entwaffnenden Herzlichkeit und Zuneigung jeden anzustecken vermochte. Wäre Retta doch nur eine Whittaker, dachte Alma, und keine Snow! Vielleicht wäre dann alles anders gewesen. Vielleicht hätten Alma und Prudence in dieser Konstellation gelernt, Freundinnen zu sein, Gefährtinnen, Vertraute … Schwestern!
Es war ein Gedanke, der Alma mit schrecklicher Traurigkeit erfüllte, doch sie konnte ja nichts daran ändern. Die Dinge konnten nicht anders sein als so, wie sie waren – dies hatte die Mutter sie wieder und wieder gelehrt.
Und Dinge, die nicht zu ändern waren, mussten stoisch ertragen werden.
Kapitel 10
Der Juli des Jahres 1820 ging zur Neige.
Die Vereinigten Staaten von Amerika durchlebten eine wirtschaftliche Rezession, die erste Phase des Niedergangs in ihrer kurzen Geschichte, und auch Henry Whittaker erfreute sich ausnahmsweise keines glanzvollen Geschäftsjahres. Nicht dass ihn harte Zeiten getroffen hätten – durchaus nicht –, gleichwohl fühlte er sich einem ungewohnten Druck ausgesetzt. Der Markt für exotische Tropenpflanzen in Philadelphia war gesättigt, und in Europa hatte man sich an den amerikanischen Pflanzenexporten sattgesehen. In der Stadt schien inzwischen jeder Quäker eine Apotheke zu betreiben und seine eigenen Pillen und Salben herzustellen. Bisher vermochte zwar keiner der Konkurrenten in puncto Beliebtheit an die Erzeugnisse von Garrick & Whittaker heranzureichen, doch würde es vermutlich früher oder später dazu kommen.
Gern hätte Henry den Rat seiner Frau eingeholt, allein Beatrix ging es schon seit Jahresbeginn nicht gut. Sie litt unter regelmäßigen Schwindelanfällen, und durch die sommerliche Hitze hatte sich ihre körperliche Verfassung zusehends verschlechtert. Ihre Belastbarkeit hatte nachgelassen, und sie war kurzatmig geworden. Anstatt zu klagen, versuchte sie, mit der Arbeit Schritt zu halten, doch sie war nicht bei Kräften, weigerte sich indessen, einen Arzt aufzusuchen. Sie glaubte nicht an Ärzte, Apotheker oder Arzneien, was angesichts des Broterwerbes
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