Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
zum Imbiss auf das Anwesen ihrer Familie einlud – womit sie Alma von ihren botanischen Forschungen fernhielt und Prudence von dem, was sie – wie und wo auch immer – mit ihrer Zeit anstellte.
Imbisse im Hause Snow waren, wie es sich für Rettas alberne Natur geziemte, eine alberne Angelegenheit. Es gab ein heilloses Durcheinander an Eissorten, kleinen Häppchen und Toasts, serviert unter Aufsicht – sofern dieser Ausdruck nicht zu hoch gegriffen war – von Rettas ebenso bezauberndem wie inkompetentem englischen Hausmädchen. Geistreiche oder gehaltvolle Gespräche waren in diesem Hause grundsätzlich verpönt, doch zu lustigen, närrischen oder ausgelassenen Aktivitäten jeder Art war Retta allzeit bereit. Es gelang ihr sogar, Alma und Prudence dazu zu bewegen, unsinnige Gesellschaftsspiele mit ihr zu spielen, die eigentlich einer sehr viel jüngeren Runde zugedacht waren: Such das Schlüsselloch , Auf dem Postamt oder das mit Abstand amüsanteste Spiel Der stumme Redner . All dies war schrecklich kindisch, doch es machte wahrhaftig Spaß. Tatsache war, dass Alma und Prudence noch nie gespielt hatten, weder allein noch miteinander noch mit anderen Kindern. Alma hatte im Grunde nie begriffen, was Spielen eigentlich bedeutete.
Retta Snow indessen tat genaugenommen nichts anderes als spielen. Ihr liebster Zeitvertreib bestand darin, zu Almas und Prudence’ Erheiterung die Unfallberichte aus den Lokalzeitungen vorzulesen. Es war unverzeihlich, doch überaus amüsant. Retta behängte sich mit Tüchern, Hüten und fremden Akzenten und schmückte diese Unfälle zu haarsträubenden Szenen aus: Babys, die in offene Kamine fielen, Arbeiter, die durch herabstürzende Äste enthauptet wurden, fünffache Mütter, die, aus Kutschen geschleudert, in Wassergräben ertranken, mit dem Kopf nach unten, die zappelnden Stiefel in die Luft gereckt, vor den Augen ihrer entsetzten, hilflos kreischenden Kinder.
»Unterhaltsam sollte so etwas beileibe nicht sein!«, protestierte Prudence, doch Retta hörte immer erst dann auf, wenn alle vor lauter Gelächter nach Luft rangen. Es gab Augenblicke, da ergriff das Lachen derart Besitz von ihr, dass sie sich nicht mehr bremsen konnte. Dann verlor sie die Kontrolle über ihren Gemütszustand und war mit einem Mal wie besessen von einer zügellosen, geradezu blindwütigen Ausgelassenheit. Mitunter wälzte sie sich sogar in besorgniserregender Weise auf dem Boden. In diesen Momenten schien Retta von einer fremden, dämonischen Kraft beherrscht. Sie lachte und lachte, bis sie in schweren, unkontrollierten Zügen Luft zu schöpfen begann und ein dunkler Schatten über ihr Gesicht fiel, der fast wie Angst anmutete. Erst wenn Alma und Prudence sich schon beinahe zu sorgen begannen, kam Retta wieder zur Besinnung. Sie sprang auf, trocknete ihre feuchte Stirn und rief: »Dem Himmel sei Dank, dass wir einen Boden haben! Denn worauf würden wir sonst sitzen?«
Retta Snow war das eigentümlichste kleine Fräulein von ganz Philadelphia, und doch spielte sie offenbar nicht nur in Almas, sondern auch in Prudence’ Leben eine besondere Rolle. Wenn sie zu dritt waren, fühlte sich Alma zum ersten Mal in ihrem Leben beinahe so wie ein ganz normales Mädchen. Gemeinsam mit ihrer Freundin und ihrer Schwester konnte sie sich einer ausgelassenen Heiterkeit hingeben, als wäre sie irgendein beliebiges junges Ding aus Philadelphia und nicht Alma Whittaker von White Acre – eben nicht diese reiche, hünenhafte, reizlose junge Frau, die etliche Sprachen beherrschte, gelehrsam war wie keine zweite und nicht nur Dutzende akademischer Veröffentlichungen verfasst hatte, sondern zudem eine Fülle schockierender erotischer Bilder in sich trug, die in ihrem Kopf römische Orgien feierten. All dies verblasste in Rettas Gegenwart, und Alma konnte einfach nur ein junges Mädchen sein, das wie alle anderen glasierte Torten aß und über alberne Lieder kicherte.
Retta war auch der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der Prudence jemals zum Lachen brachte, und dies kam wahrhaftig einem Wunder gleich. Die Verwandlung, die sich mit der lachenden Prudence vollzog, war geradezu sensationell: Aus dem eisigen Juwel wurde ein süßes Schulmädchen. In solchen Momenten schien auch Prudence imstande, ein ganz normales junges Ding zu sein, und es kam vor, dass Alma ihrer Schwester vor lauter Entzücken um den Hals fiel.
Bedauerlicherweise stellte sich diese Vertrautheit nur in Rettas Gegenwart ein. Sobald die beiden Schwestern
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