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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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elendes, empfindungsloses Gebilde, ein trauriger, stinkender Ausdruck des Verfalls. Nach fünf Tagen erlitt Beatrix einen vollständigen Harnstau. Ihr Unterleib schwoll an, wurde hart und heiß. Undenkbar, dass sie noch lange leben würde.
    Ein Arzt kam – vom Pharmazeuten James Garrick geschickt –, doch Alma wies ihn ab. Es würde ihrer Mutter nichts nützen, wenn man sie nun zur Ader ließe. Stattdessen übersandte sie Mr Garrick eine Nachricht mit der Bitte, eine Tinktur aus flüssigem Opium zuzubereiten, die sie ihrer Mutter stündlich in kleinen Tropfen in den Mund träufeln würde.
    In der siebten Nacht lag Alma schlafend in ihrem Bett, als Prudence, die bei Beatrix gewacht hatte, hereinkam und sie mit einer leichten Berührung an der Schulter weckte.
    »Sie spricht«, flüsterte Prudence.
    Alma schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, wo sie überhaupt war. Sie blinzelte in Prudence’ Kerzenlicht. Wer sprach? Sie hatte von Pferdehufen und geflügelten Tieren geträumt. Sie schüttelte nochmals den Kopf, richtete sich auf, und dann war alles wieder da.
    »Was sagt sie?«, fragte Alma.
    »Sie hat mich gebeten, das Zimmer zu verlassen«, antwortete Prudence ohne erkennbare Gefühlsregung. »Sie hat nach dir verlangt.«
    Alma schlang sich ein Tuch um die Schultern.
    »Schlaf du jetzt«, sagte sie zu ihrer Schwester und nahm die Kerze mit ins Zimmer der Mutter.
    Beatrix hatte die Augen weit geöffnet. Eines davon war blutunterlaufen und bewegte sich nicht. Das andere schweifte forschend über Almas Gesicht.
    »Mutter«, sagte Alma und sah sich nach einem Getränk für Beatrix um. Auf dem Nachttisch stand eine Tasse mit kaltem Tee, ein Überbleibsel von Prudence’ Nachtwache. Beatrix würde keinen vermaledeiten englischen Tee trinken wollen, nicht einmal auf ihrem Sterbebett. Doch es gab nichts anderes. Alma hielt die Tasse an ihre trockenen Lippen. Beatrix nippte, und tatsächlich runzelte sie sogleich die Stirn.
    »Ich hole dir Kaffee«, bot ihr Alma entschuldigend an.
    Beatrix schüttelte schwach den Kopf.
    »Was kann ich dir holen?«, fragte Alma.
    Keine Antwort.
    »Willst du Hanneke sehen?«
    Da Beatrix sie nicht zu hören schien, wiederholte Alma die Frage, diesmal auf Holländisch.
    »Zak ik Hanneke roepen?«
    Beatrix schloss die Augen.
    »Zak ik Henry roepen?«
    Keine Antwort.
    Alma nahm ihre Hand, die kalt war und sehr klein. Noch nie hatten sie sich an den Händen gefasst. Sie wartete. Beatrix hielt die Augen weiterhin geschlossen. Alma war schon beinahe eingedöst, da hörte sie ihre Mutter flüstern:
    »Alma.«
    »Ja, Mutter.«
    »Bleib.«
    Beatrix hatte englisch gesprochen.
    »Ich bleibe bei dir.«
    Doch die Mutter schüttelte den Kopf. Nein, das meinte sie nicht. Wieder schloss sie die Augen. Wieder wartete Alma, in diesem dunklen, dem Tode geweihten Raum plötzlich zutiefst erschöpft. Es dauerte lange, bis Beatrix die Kraft fand, ihren ganzen Satz über die Lippen zu bringen.
    »Bleib bei deinem Vater«, hauchte sie.
    Was hätte Alma erwidern sollen? Was verspricht man einer Frau auf dem Sterbebett? Insbesondere, wenn die Frau die eigene Mutter ist? Man verspricht alles.
    »Ich werde immer bei ihm bleiben«, erklärte Alma.
    Mit dem gesunden Auge starrte Beatrix abermals forschend in Almas Gesicht, als ob sie den Schwur ihrer Tochter auf seine Ehrlichkeit zu überprüfen suchte. Scheinbar überzeugt, schloss sie wieder die Augen.
    Alma gab ihrer Mutter noch einen Tropfen Opium. Inzwischen atmete Beatrix nur noch sehr flach, und ihre Haut war kalt. Es schien, als hätte die Mutter bereits ihre letzten Worte gesprochen, doch fast zwei Stunden später, als Alma auf dem Stuhl eingenickt war, wurde sie von einem gepressten Husten aus dem Dämmerschlaf gerissen. Sie dachte, Beatrix sei im Begriff zu ersticken, doch es war lediglich ein Versuch, noch etwas zu sagen. Wieder benetzte Alma Beatrix’ Lippen mit dem verhassten Tee.
    »Mir dreht sich der Kopf«, flüsterte die Mutter.
    »Komm, ich hole dir Hanneke.«
    Doch zu ihrer Überraschung lächelte Beatrix. »Nein«, sagte sie. »Het is fijn. «
    Es ist schön.
    Dann schloss Beatrix Whittaker die Augen und starb – wie aus eigenem Entschluss.
    •
    Am nächsten Morgen machten sich Alma, Prudence und Hanneke gemeinsam daran, die Tote zu waschen, anzukleiden, ins Leichentuch zu hüllen und für die Beisetzung vorzubereiten. Es war eine schweigsame, traurige Arbeit.
    Wider die örtlichen Gepflogenheiten wurde der Leichnam nicht im Salon

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