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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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sich.
    Wieder das reinste Unverständnis. Alma wirbelte herum, ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen und sah in lauter verwirrte Gesichter. Niemand wusste, was sie meinte. Sie benutzte die falschen Worte. Sie durchforstete ihr Gedächtnis, versuchte es abermals.
    »Bring mir Hirschhornsalz«, sagte sie.
    Aber nein, auch das war nicht der vertraute Begriff – jedenfalls nicht für diese Leute. Hirschhorn war ein veralteter Ausdruck, den außer Wissenschaftlern niemand kannte. Sie kniff die Augen zusammen und suchte nach dem geläufigsten Wort für das, was sie haben wollte. Wie nannten es gewöhnliche Leute? Plinius der Ältere hatte es als Hammoniacus sal bezeichnet. Im dreizehnten Jahrhundert benutzten es die Alchemisten. Doch würde ein Verweis auf Plinius in dieser Lage nicht helfen, und auch die Alchemie des dreizehnten Jahrhunderts wäre als Hinweis wohl niemandem in diesem Zimmer dienlich. Alma verfluchte ihr Hirn: Es war eine mit toten Sprachen und nutzloser Gelehrsamkeit gefüllte Abfalltonne, mehr nicht! Sie verlor kostbare Zeit!
    Endlich fiel es ihr ein. Sie schlug die Augen auf und bellte einen Befehl, der tatsächlich Wirkung zeigte: »Riechsalz!«, schrie sie. »Los! Holt Riechsalz! Bringt es mir!«
    Rasch wurde das Salz herbeigeschafft. Das Holen brauchte fast weniger Zeit als das Benennen.
    Hastig hielt Alma ihrer Mutter das Fläschchen unter die Nase. Ein Röcheln, ein Keuchen, und Beatrix tat einen Atemzug. Auch im Kreis der Hausangestellten rang man ergriffen nach Luft, und eine Frau rief: »Gelobt sei Gott!«
    Beatrix war also nicht tot, doch in der kommenden Woche blieb sie besinnungslos. Alma und Prudence wechselten sich am Bett ihrer Mutter ab und hatten Tag für Tag, Nacht für Nacht ein stetes Auge auf sie. In der ersten Nacht übergab sich Beatrix im Schlaf, und Alma wusch sie. Auch den Urin und alle anderen Ausscheidungen wischte sie auf.
    Noch nie hatte Alma bis zu jenem Tag den Körper ihrer Mutter gesehen – jedenfalls nichts, was jenseits von Gesicht, Hals und Händen lag –, und als sie nun die reglose Gestalt auf dem Bett wusch, wurde sie gewahr, dass beide Brüste von harten Beulen deformiert waren. Tumoren. Große Tumoren. Einer hatte bereits die Haut durchbrochen und sonderte eine dunkle Flüssigkeit ab. Alma wurde beinahe ohnmächtig bei dem Anblick. Der Begriff für das, was sie hier erblickte, kam ihr auf Griechisch in den Sinn: Karkinos . Krebs. Beatrix war offenbar schon seit geraumer Zeit daran erkrankt. Gewiss hatte sie seit Monaten, wenn nicht gar Jahren ein qualvolles Leben geführt. Nie hatte sie geklagt. Bei Tisch hatte sie sich lediglich an Tagen, da die Beschwerden unerträglich wurden, für ihr Fernbleiben entschuldigt, ihre Gebrechen jedoch als gewöhnliche Schwächeanfälle abgetan.
    Hanneke de Groot schlief in dieser Woche kaum: Zu jeder Stunde kam sie mit Kompressen und Fleischbrühe herbeigeeilt. Sie wickelte Beatrix’ Kopf in frische, feuchte Tücher, versorgte die geschwürige Brust, brachte den Mädchen Butterbrote und versuchte, Beatrix’ aufgesprungenen Lippen Getränke einzuflößen. Zu ihrer eigenen Schande musste sich Alma eingestehen, dass sie selbst an der Seite ihrer Mutter hin und wieder von einem Gefühl der Rastlosigkeit erfasst wurde, während Hanneke geduldig alle Pflichten der Pflege wahrnahm. Beatrix und Hanneke hatten ihr gesamtes Leben zusammen verbracht. Im botanischen Garten von Amsterdam waren sie Seite an Seite aufgewachsen. Sie waren gemeinsam mit demselben Schiff aus Holland gekommen. Beide hatten ihre Familien zurückgelassen und weder Eltern noch Geschwister jemals wiedergesehen. Das ein oder andere Mal weinte Hanneke um ihre Herrin und betete auf Holländisch. Alma weinte weder, noch betete sie. Auch Prudence tat nichts dergleichen – zumindest nicht im Beisein anderer.
    Was Henry betraf, so kam er fortwährend in Beatrix’ Zimmer gestürmt, um im nächsten Moment beunruhigt und aufgelöst wieder hinauszustürmen. Er war ihnen keine Hilfe. Alles war erheblich einfacher, wenn er nicht da war. Er kam, ließ sich für einen Augenblick neben seiner Frau nieder, rief »Oh, ich verkrafte das nicht!« und eilte, einen Schwall von Flüchen ausstoßend, wieder hinaus. Sein Äußeres wurde ungepflegt, doch Alma hatte wenig Zeit für ihn. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter in der guten flämischen Bettwäsche dahinwelkte. Dies war nicht mehr die respekteinflößende Beatrix van Devender Whittaker; dies war nur noch ein

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