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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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an arbeiteten sie unablässig daran, gemeinsam die Welt auszuplündern.
    Alma hatte immer schreckliche Angst vor Dick Yancey gehabt. Das ging allen so. Selbst Henry bezeichnete Dick als »abgerichtetes Krokodil« und hatte einmal konstatiert: »Schwer zu sagen, was gefährlicher ist: ein abgerichtetes oder ein wildes Krokodil. So oder so würde ich ihm meine Hand – Gott behüte – nicht allzu lange ins Maul legen.«
    Schon als Kind hatte Alma instinktiv begriffen, dass es auf dieser Welt zwei Arten von schweigsamen Männern gab: Die einen waren bescheiden und rücksichtsvoll, die anderen waren – Dick Yancey. Seine Augen glichen zwei Haien, die langsam ihre Beute umkreisten, und als er Alma nun anstarrte, sprachen sie eine deutliche Sprache: »Hol den Rum.«
    Also stieg Alma gehorsam in den Keller hinab und holte ihn – zwei volle Flaschen, eine für jeden. Dann ging sie in die Remise und floh vor der nahenden Trunkenheit, indem sie sich in die Arbeit stürzte. Lange nach Mitternacht schlief sie, so unbequem dies auch war, lieber auf dem Diwan ein, als ins Herrenhaus zurückzukehren. Erst bei Tagesanbruch erwachte sie und lief durch den griechischen Garten zurück ins Haus, um dort zu frühstücken. Als sie näher kam, hörte sie, dass ihr Vater und Dick Yancey noch wach waren. In voller Lautstärke schmetterten sie Seemannslieder. Obschon Henry seit drei Jahrzehnten nicht mehr zur See gefahren war, kannte er sie noch alle.
    Alma lehnte sich an die geschlossene Tür und lauschte. Die Stimme ihres Vaters, die im grauen Morgenlicht durch das Herrenhaus hallte, klang schrill, elend und ausgelaugt. Sie klang wie ein schwermütiges Heulen aus fernen Weltmeeren.
    •
    Keine zwei Wochen später, am Morgen des 10. August 1820 , stürzte Beatrix Whittaker die große Treppe von White Acre hinab.
    Sie war frühmorgens aufgewacht und hatte sich offenbar so gut gefühlt, dass sie den Plan fasste, ein wenig im Garten zu arbeiten. Sie zog die alten Gartenschuhe mit den Ledersohlen an, steckte ihr Haar unter die steife holländische Haube und stieg die Treppe hinunter, um sich an die Arbeit zu machen. Doch auf den am Vortag gebohnerten Stufen waren ihre Ledersohlen zu glatt. Beatrix rutschte aus und stürzte.
    Im Studierzimmer der Remise war Alma bereits in ihren Aufsatz über die Fangblasen der fleischfressenden Wasserschläuche vertieft, an dem sie für die Botanica Americana schrieb, als sie mit einem Mal Hanneke de Groot durch den griechischen Garten auf sich zueilen sah. Almas erster Gedanke war, wie ulkig die alte Haushälterin aussah – mit ihren wehenden Röcken, den wedelnden Armen und dem roten, verzerrten Gesicht. Als rollte ein riesiges, in Frauenkleider gestecktes Bierfass durch den Garten auf sie zu. Beinahe hätte Alma laut aufgelacht. Doch dann verging ihr das Lachen. Hanneke war sichtlich entsetzt, ein für diese Frau gänzlich untypischer Zustand. Etwas Furchtbares musste geschehen sein.
    Alma dachte: Mein Vater ist tot.
    Sie hielt sich die Hand aufs Herz. Bitte nicht. Bitte, nicht mein Vater.
    Hanneke hatte die Tür erreicht, die Augen weit aufgerissen und mit wildem Blick nach Luft ringend. Sie keuchte, schluckte, und dann brach es aus ihr heraus: »Je moeder is dood.«
    Deine Mutter ist tot.
    •
    Die Bediensteten hatten Beatrix in ihr Zimmer getragen und aufs Bett gelegt. Alma scheute sich fast hineinzugehen; sie hatte das mütterliche Zimmer nur selten betreten dürfen. Nun sah sie, wie grau das Gesicht der Mutter geworden war. An der Stirn hatte sie eine Schwellung, ihre Lippen waren aufgesprungen und blutig. Die Haut fühlte sich kalt an. Bedienstete standen um das Bett. Eins der Mädchen hielt Beatrix einen Spiegel unter die Nase, um festzustellen, ob sie noch atmete.
    »Wo ist mein Vater?«, fragte Alma.
    »Er schläft noch«, antwortete ein anderes Mädchen.
    »Weckt ihn nicht auf«, befahl Alma. »Hanneke, öffne ihr Mieder.«
    Beatrix trug die Kleider über der Brust stets flach geschnürt – strikt, ehrbar und so stramm, dass es ihr den Atem raubte. Sie drehten ihren Körper auf die Seite, und Hanneke lockerte das Schnürwerk. Nach wie vor atmete Beatrix nicht.
    Alma wandte sich zu einem der jüngeren Diener, einem Burschen, der aussah, als ob er ein schneller Läufer wäre.
    »Bring mir Ammoniumcarbonat«, befahl sie.
    Er sah sie verständnislos an.
    Alma erkannte, dass sie dem Knaben in ihrer Hast den chemischen Fachbegriff genannt hatte. »Bring mir Flüchtiges Laugensalz«, verbesserte sie

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