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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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kaum zu unterscheiden. Sie war erschüttert und ermattet. Es gab Momente, da sah sie von ihrer Arbeit auf, um die Mutter etwas zu fragen; wenn dann ihr Blick zu dem Sessel schweifte, in dem bis vor kurzem Beatrix zu sitzen pflegte, erschrak sie über die Leere. Es war, als schaute man auf die vertraute Wanduhr, und plötzlich wäre da nur noch ein leerer Fleck. Immer wieder schweifte ihr Blick zum Sessel; die Leere traf sie jedes Mal überraschend.
    Allerdings war Alma ihrer Mutter auch böse. Im Kampf gegen das monatealte Papierchaos fragte sie sich häufig, warum sich Beatrix – die doch sehr genau wusste, wie krank sie war – nicht schon vor über einem Jahr um eine helfende Hand bemüht hatte. Warum hatte sie ganze Korrespondenzen in Kisten gepackt und in Wandschränken verstaut, anstatt sich Hilfe zu erbitten? Und warum hatte Beatrix ihr kompliziertes Buchführungssystem niemandem erklärt oder wenigstens verraten, wo sie die Unterlagen der vergangenen Jahre abgelegt hatte?
    Alma dachte an die mahnenden Worte ihrer Mutter, die vor Jahren gepredigt hatte: »Lege niemals eine Arbeit aus der Hand, Alma, solange die Sonne noch hoch am Himmel steht. Hoffe nicht, morgen mehr Zeit dafür zu finden, denn das wirst du nicht, und bist du erst einmal mit deinen Pflichten in Verzug geraten, wirst du den Rückstand nie wieder aufholen.«
    Wie hatte Beatrix zulassen können, dass sie derart in Verzug geriet?
    Vielleicht hatte sie nicht an ihren baldigen Tod geglaubt.
    Vielleicht hatten die Schmerzen ihr den Verstand so umnebelt, dass ihr der Blick für die Welt abhandengekommen war.
    Und vielleicht, dachte Alma finster, hatte Beatrix die Lebenden ja auch über ihren Tod hinaus bestrafen wollen. Mit Arbeit.
    Was nun Hanneke de Groot betraf, so wurde Alma rasch gewahr, dass diese Frau eine Heilige war. Alma hatte bislang keinerlei Kenntnis davon genommen, wie viel Hanneke für das Anwesen leistete. Sie kümmerte sich um das Personal – Dutzende von Menschen, die sie einstellte, anlernte, betreute und maßregelte. Sie bewirtschaftete die Vorratskeller und kommandierte die gesamte Gemüseernte, als führte sie einen Kavallerieangriff quer durch Felder und Gärten. Sie requirierte ihre Truppen zum Silberputzen, zum Teppichklopfen, zum Weißeln der Wände, zum Schottern der Einfahrt, zum Fettausschmelzen und Puddingkochen. Mit ihrem ausgeglichenen Naturell und ihrer strammen Disziplin gelang es ihr, die Eifersüchteleien, die Trägheit und den Unverstand all dieser Menschen im Zaum zu halten. Sie war ohne Frage der einzige Grund dafür, dass das Anwesen seit Beatrix’ Erkrankung weiter funktioniert hatte.
    Eines Morgens, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, wurde Alma Zeugin, wie Hanneke drei Küchenmädchen, die sie wie zu ihrer sofortigen Erschießung an die Wand gestellt hatte, zurechtwies.
    »Eine einzige gute Arbeitskraft schafft mehr als ihr zu dritt!«, blaffte Hanneke. »Und sobald ich eine gute Arbeitskraft finde , werdet ihr drei entlassen, verlasst euch drauf! Unterdessen geht ihr unverzüglich wieder euren Pflichten nach und hört auf, euch mit gedankenloser Bummelei zu kompromittieren.«
    »Ich kann dir gar nicht genug für deine Dienste danken«, erklärte ihr Alma, als die Mädchen fort waren. »Ich hoffe, dass ich irgendwann in der Lage sein werde, dir bei der Haushaltsführung besser zur Seite zu stehen, doch fürs Erste wirst du dich weiterhin um alles kümmern müssen, während ich versuche, Ordnung in die geschäftlichen Angelegenheiten meines Vaters zu bringen.«
    »Ich habe mich immer um alles gekümmert«, stellte Hanneke klaglos fest.
    »Ja, das hast du wohl, Hanneke. Du scheinst zu arbeiten wie zehn Männer.«
    »Deine Mutter hat gearbeitet wie zwanzig Männer, Alma – und um deinen Vater musste sie sich auch noch kümmern.«
    Als Hanneke sich zum Gehen wandte, hielt Alma die Haushälterin am Arm zurück.
    »Hanneke«, sagte sie müde und mit gerunzelter Stirn. »Was kann man für ein Kind tun, das eine Stecknadel verschluckt hat?«
    Ohne zu zögern oder nach den Hintergründen zu fragen, antwortete Hanneke: »Verordne dem Kind rohes Eiweiß und der Mutter Geduld. Versichere ihr, dass die Nadel wahrscheinlich in ein paar Tagen durch den natürlichen Ausgang herausrutschen wird, ohne dem Kind Schaden zuzufügen. Ist das Kind älter, so kann man es Seilchen springen lassen, um den Vorgang zu unterstützen.«
    »Kann ein Kind daran sterben?«, fragte Alma.
    Hanneke zuckte die Achseln. »Manchmal. Doch wenn du

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