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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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dieser grünen Welt. Alma war ihr so nah, dass sie sie riechen konnte: ein schwerer, nasskalter, ergiebiger Geruch. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den dichten Miniaturwald. Klaglos gab er unter dem Gewicht ihrer Handfläche nach und schnellte, als sie die Hand wieder hob, in seine ursprüngliche Form zurück. Seine Reaktion hatte etwas Faszinierendes. Das Moos fühlte sich weich an, warm, einige Grade wärmer als die Umgebungsluft, und zudem sehr viel feuchter, als Alma erwartet hatte. Es schien sein eigenes Klima zu haben.
    Alma hielt sich die Lupe vors Auge, und von einer Sekunde zur nächsten präsentierte sich der Miniaturwald in stattlicher Größe. Es war atemberaubend. Vor Almas Augen tat sich ein unverhofftes, ungeahntes Reich auf. Dies war der Amazonas-Urwald, wie er sich auf dem Rücken einer Harpyie aus luftiger Höhe darbot. Sie ließ ihren Blick über diese verblüffende Landschaft schweifen, folgte ihren Pfaden in alle Richtungen. Da gab es üppige Täler mit winzigen Bäumen aus geflochtenem Nixenhaar und einem filigranen Geflecht feinster Ranken. Da gab es Flüsse, die im Verborgenen durch den Dschungel strömten, und eine Senke im Zentrum des Felsens, in die sich das Wasser ergoss wie in einen Miniaturozean.
    Auf der anderen Seite dieses Ozeans – der nur halb so groß war wie Almas Schultertuch – entdeckte sie einen weiteren Kontinent aus Moos. Auf diesem Kontinent war alles anders. Ob hier mehr Sonnenlicht auf den Felsen fiel?, überlegte Alma. Oder etwas weniger Regen? Das Klima war jedenfalls gänzlich verschieden. Hier bildete das Moos aus eleganten, bizarr geformten Büscheln dunkelgrüne, armlange Gebirgszüge. In einem anderen Segment desselben Felsens fand Alma verschwindend kleine Wüstenflecken, besiedelt von einer robusten, trockenen, fast schuppigen Moosart, die wie ein Kakteengewächs anmutete. Andernorts begegneten ihr zierliche, tiefe Moosfjorde, in denen Spuren winterlichen Eises überdauert hatten, aber auch warme Meeresarme, Miniaturgipfel und Tropfsteinhöhlen von der Größe ihres Daumens.
    Als Alma endlich wieder aufsah, erblickte sie das Ausmaß dessen, was sich vor ihr auftat: nicht ein Felsen, nein, Dutzende von Felsblöcken, mehr als sie zählen konnte, jeder mit einem ähnlichen Teppich aus Moos bedeckt und doch keiner so wie der andere. Alma holte tief Luft. Vor ihr lag die Welt. Nein, mehr als die Welt: das Firmament des Universums, dargeboten durch eines von William Herschels bahnbrechenden Teleskopen. Planetarisch und von unermesslicher Weite. Endlose, unerforschte Galaxien – und das alles zum Greifen nah! Von hier konnte man das Herrenhaus noch sehen. Und auch die alten, vertrauten Boote auf dem Schuylkill. In der Ferne waren sogar die Stimmen der Landschaftsgärtner zu hören, die in der Pfirsichplantage arbeiteten. Und hätte Hanneke in diesem Moment zum Essen geläutet, so hätte Alma auch dies gehört.
    Almas Reich und das Reich der Moosgewächse berührten sich nicht nur, sie waren geradezu miteinander und ineinander verwoben. Und so weitläufig, lärmend und schnell die eine Welt war, so langsam, so still und so klein schien die andere, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als unermesslich groß erwies.
    Als Alma einen Finger in den grünen Teppich tauchte, wurde sie von einer unbändigen Vorfreude erfasst. All dies konnte ihr gehören! Noch nie hatte ein Botaniker den Entschluss gefasst, sein gesamtes Studium ausschließlich dieser gering bewerteten, unterschätzten Pflanzenart zu widmen. Doch genau das hatte Alma nun vor. Sie verfügte nicht nur über die notwendige Zeit, sondern auch über die gebotene Geduld. Sie besaß das erforderliche Wissen. Sie besaß die erforderlichen Mikroskope. Und sie hatte sogar – auch dies ein unverzichtbares Element – einen Verleger, denn was auch immer zwischen ihnen vorgefallen war (oder eben nicht vorgefallen war), George Hawkes würde sich nicht zweimal bitten lassen, sämtliche Forschungsergebnisse von A. Whittaker zu veröffentlichen.
    Unter dem Eindruck dieser Entdeckung empfand Alma ihre gesamte Existenz plötzlich als größer, bedeutender und zugleich sehr viel kleiner. Die Welt war auf ein wohltuendes Maß geschrumpft, endlose Zentimeter voller Möglichkeiten. Ein reiches, ausgefülltes Leben en miniature , so sollte es sein. Und das Beste war, dass Alma niemals imstande sein würde, alles über die Moosgewächse zu erfahren – dafür gab es einfach zu viele auf dieser Welt, existierten sie doch

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