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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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hatte sie ihnen sogar schon Namen verliehen. Zunächst einmal gab es nach Almas Auffassung so etwas wie eine »Menschenzeit«, die, basierend auf einer mit Fehlern durchsetzten Geschichtsschreibung, nur das Erinnerbare erfasste. Die Menschenzeit war ein kurzer, horizontaler Vorgang. Sie reichte wie eine schmale Linie von der jüngeren Vergangenheit in die kaum vorstellbare Zukunft. Das hervorstechendste Merkmal der Menschenzeit war ihre erstaunliche Kürze: Inmitten des Universums war sie nicht mehr als ein Fingerschnipsen. Bedauerlicherweise gehörte Almas irdisches Leben – wie das aller Sterblichen – in die Domäne der Menschenzeit. Somit war ihr schmerzlich bewusst, dass sie nicht lange auf dieser Welt verweilen würde. Wie ihre Mitmenschen war auch sie nicht mehr als ein Fingerschnipsen inmitten des Universums.
    Am anderen Ende der Skala gab es etwas, das Alma die »göttliche Zeit« getauft hatte: eine unfassbare Ewigkeit, in der Galaxien entstanden – zugleich sich aber auch die Heimstatt Gottes befand. Sie wusste nichts über die göttliche Zeit. Niemand wusste etwas darüber. Menschen, die von sich behaupteten, ein wie auch immer geartetes Verständnis davon zu besitzen, erzürnten Alma. Sie verspürte keinerlei Interesse, die göttliche Zeit zu ergründen, denn als Mensch – so ihre feste Überzeugung – war man außerstande, sie zu begreifen. Es war eine Zeit außerhalb der Zeit, und Alma zog es vor, sie sich selbst zu überlassen. Dennoch spürte sie, dass diese Zeit existierte, und sie versuchte, sie sich als einen Zustand unendlicher Weite vorzustellen.
    Was nun den Planeten Erde betraf, so glaubte Alma, dass es eine dritte Zeitkategorie gab, die sie als »geologische Zeit« bezeichnete – jene Zeit, über die Charles Lyell und John Phillips unlängst in so überzeugender Weise geschrieben hatten. Alle naturgeschichtlichen Ereignisse fielen in diese Kategorie. Die geologische Zeit bewegte sich in einem Tempo, das beinahe den Eindruck von Ewigkeit erweckte und insofern dem Göttlichen nahekam. Sie bewegte sich mit der Geschwindigkeit von Steinen und Gebirgen. Jede Form von Hast war der geologischen Zeit fremd, denn sie folgte, wie einige Wissenschaftler nun behaupteten, einem sehr viel langwierigeren, umfassenderen Plan als bislang vermutet.
    Irgendwo zwischen der geologischen Zeit und der Menschenzeit gab es allerdings noch etwas, das Alma die »Mooszeit« nannte. Verglichen mit der geologischen Zeit legte die Mooszeit ein geradezu atemberaubendes Tempo vor, denn Moos vermochte sich innerhalb von tausend Jahren in einer Weise zu entwickeln, von der Steine über einen Zeitraum von einer Million Jahren nicht einmal träumen durften. Im Vergleich zur Menschenzeit war die Mooszeit indessen von quälender Langsamkeit. Dem ungeübten menschlichen Auge präsentierte sich das Moos völlig regungslos, wie aus Erz gegossen. Und doch bewegte es sich, noch dazu mit bemerkenswerten Folgen. Lange schien sich nicht das Geringste zu verändern, doch dann, vielleicht nach einem Jahrzehnt, war auf einen Schlag alles anders. Moose entwickelten sich nun einmal so langsam, dass der größte Teil der Menschheit ihre Bewegungen nicht wahrnahm.
    Alma indessen nahm sie wahr. Schon lange vor dem Jahr 1848 hatte sie gelernt, die Welt, so gut sie konnte, durch das schleichende Uhrwerk der Mooszeit zu betrachten. An den Rändern ihrer Kalkfelsen hatte sie kleine bunte Wimpel in den Stein gebohrt, um das Wachstum der einzelnen Mooskolonien zu markieren, und seit nunmehr sechsundzwanzig Jahren verfolgte sie dieses langwierige Schauspiel als aufmerksame Beobachterin. Welche Moosart wucherte über den Felsblock, welche zog sich zurück? Wie viel Zeit nahm dies in Anspruch? Allmählich wurde sie Zeugin, wie die stillen grünen Territorien vor ihren Augen expandierten oder schrumpften. Diese Entwicklungen ließen sich nur in Fingernagellängen und Dekaden messen.
    Beim Studium der Mooszeit versuchte Alma, sich über die eigene Sterblichkeit keine Gedanken zu machen. Auch sie war gefangen in ihrer Zeit, der Menschenzeit, doch daran ließ sich nun einmal nichts ändern. Insofern hatte sie keine andere Wahl: Sie musste aus dem Geschenk ihrer kurzen Existenz das Beste machen, auch wenn es nur ein Wimpernschlag war. Für eine Mooskolonie waren achtundvierzig Jahre nichts, für eine Frau hingegen eine durchaus beträchtliche Anzahl von Jahren. Ihre Menstruation hatte bereits aufgehört. Ihr Haar war ergraut. Mit etwas Glück blieben ihr

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