Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
halten.«
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Und das tat Alma. Sie lernte, ihre Enttäuschungen unter den Absätzen ihrer Stiefel zu zermalmen. Sie besaß stabile Stiefel, war also bestens gerüstet. Sie mühte sich, ihren Gram zu grobem Staub zu zerstampfen, der sich in die Abflussrinne befördern ließ. Sie tat es Tag für Tag, mitunter sogar mehrmals an ein und demselben Tag, und so schritt sie voran.
Die Monate vergingen. Alma half ihrem Vater, sie half Hanneke, sie arbeitete in den Gewächshäusern, und mitunter arrangierte sie zu Henrys Zeitvertreib offizielle Dinnereinladungen in White Acre. Ihre alte Freundin Retta sah sie selten. Noch seltener sah sie Prudence, wenn es auch hin und wieder vorkam. Aus reiner Gewohnheit ging Alma sonntags zum Gottesdienst, wobei sie diesen Kirchenbesuchen schändlicherweise Besuche in der Bindekammer folgen ließ, um ihren Kopf zu leeren, indem sie ihren Körper berührte. Die Bindekammer war kein Ort der Freude mehr, doch wenigstens brachte sie ihr ein wenig Entspannung.
Trotz aller Bemühungen, stets beschäftigt zu sein, war Alma nicht beschäftigt genug. Nach einem Jahr wurde sie gewahr, dass eine zunehmende Lethargie von ihr Besitz ergriffen hatte, und das erschreckte sie. Sie sehnte sich nach einer Betätigung, einem Vorhaben, in dem sie ihre beträchtlichen intellektuellen Energien entfalten könnte. In dieser Hinsicht waren die geschäftlichen Angelegenheiten ihres Vaters zunächst durchaus dienlich, denn die Arbeit füllte ihre Tage mit einem beängstigenden Berg an Pflichten; doch bald wurde ihr die eigene Tüchtigkeit zur Feindin. Sie meisterte ihre Arbeit für die Whittaker Company zu gut und zu schnell. Nachdem sie alles gelernt hatte, was sie über den Pflanzenimport und -export wissen musste, war sie binnen kurzem in der Lage, sich innerhalb von täglich vier bis fünf Stunden sämtlicher Aufgaben zu entledigen. Das war einfach nicht genug. Der Tag hatte noch zu viele freie Stunden, und freie Stunden waren gefährlich. Freie Stunden gaben Alma Gelegenheit, sich mit Enttäuschungen zu befassen, die sie eigentlich unter ihren Stiefelabsätzen zermalmt glaubte.
In dieser Zeit – dem Jahr, nachdem alle geheiratet hatten – gelangte Alma darüber hinaus zu einer bedeutsamen, ja erschütternden Erkenntnis: Entgegen allen Überzeugungen ihrer Kindheit wurde ihr bewusst, dass White Acre im Grunde genommen nicht besonders groß war. Eigentlich traf sogar das Gegenteil zu: White Acre war verschwindend klein. Sicher, das Anwesen war auf über tausend Morgen angewachsen, mit einem Flussufer, das sich über mehr als eine Meile erstreckte, einer beträchtlichen Fläche unberührten Waldes, einem riesigen Herrenhaus, einer spektakulären Bibliothek, einer Vielzahl von Stallungen, Gewächshäusern, Teichen und Bächen – doch wenn damit die Grenzen der eigenen Welt abgesteckt waren (und dies war bei Alma ja nun der Fall), dann war White Acre alles andere als groß. Ein Ort, den man nicht verlassen konnte, war immer überschaubar – zumal für eine Naturforscherin!
Das Problem bestand darin, dass Alma die Natur von White Acre ihr Leben lang studiert hatte; sie kannte das Anwesen zu gut. Sie kannte jeden Baum, jeden Felsen, jeden Vogel, jeden Königsfrauenschuh. Sie kannte jede Spinne, jeden Käfer, jede Ameise. Es gab nichts Neues mehr zu erforschen. Sicher, sie hätte die neuartigen tropischen Pflanzen studieren können, die Woche für Woche in den imposanten Gewächshäusern ihres Vaters eintrafen, doch mit Entdecken hatte dies bedauerlicherweise nichts zu tun. Schließlich hatte ein anderer Forscher die Pflanzen bereits entdeckt! Allein, die Aufgabe eines Naturforschers bestand nach Almas Auffassung nun einmal im Entdecken. Doch genau dies war ihr für alle Zeiten verwehrt. Als Botanikerin hatte sie ihre Grenzen bereits erreicht. Diese Einsicht schreckte Alma so sehr, dass sie nächtelang wach lag, was ihre Angst noch verstärkte. Sie spürte eine lauernde Rastlosigkeit, vor der sie sich fürchtete. Es war, als hörte sie den eigenen Geist durch ihren Schädel tigern wie ein gefangenes Tier; die bedrohliche Last der Lebensjahre, die noch vor ihr lagen, wog zentnerschwer.
Da stand sie nun: eine Botanikerin, wie geboren dafür, neue Pflanzenarten zu bestimmen, doch es fehlten die Pflanzen. Alma hielt ihr Unbehagen in Schach, indem sie stattdessen andere Dinge ordnete. In den Papieren ihres Vaters führte sie eine alphabetische Gliederung sämtlicher Vorgänge ein. Sie verschönerte die Bibliothek
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