Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Laufe der Jahre in die Welt der Moose eindrang, desto klarer wurde ihr, warum sich noch niemand eingehend damit befasst hatte: Ein unschuldiger Betrachter ging wie selbstverständlich davon aus, dass es eigentlich nichts zu studieren gab. Bei der Beschreibung von Moosen wurde stets auf das verwiesen, woran es ihnen gebrach, und nicht auf das, was sie auszeichnete, und den Moosgewächsen mangelte es in der Tat an einigem. Sie trugen keine Früchte. Sie besaßen keine Wurzeln. Sie erreichten kaum mehr als ein paar Zentimeter Wuchshöhe, da sie über kein Stützgewebe verfügten. Sie konnten kein Wasser durch ihren Körper leiten. Nicht einmal so etwas wie geschlechtliche Fortpflanzung schienen sie zu kennen. Zumindest nicht im gleichen Maße wie Lilien oder Apfelbäume, die wie alle Blüten tragenden Pflanzen ihre männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane offen zur Schau stellten. Die Moose hingegen gaben dem bloßen Auge nichts dergleichen preis, weshalb man ihnen auch den Namen Cryptogamia , »heimliche Brautleute«, verliehen hatte.
Moos wurde also in jeder Hinsicht als langweilig, simpel, belanglos, wenn nicht gar primitiv wahrgenommen. Jedes noch so gewöhnliche Unkraut, das aus den Ritzen eines armseligen städtischen Trottoirs wucherte, schien das Moos an Raffinesse bei weitem zu übertreffen. Gleichwohl gab es einen Sachverhalt, der den meisten entgangen war, mit dem sich Alma in diesen Jahren jedoch vertraut gemacht hatte: Moosgewächse waren unvorstellbar stark. Moos kann ganze Steine auffressen, doch gibt es umgekehrt etwas, wovon sich Moos fressen lässt? Wohl kaum. Moos tut sich mit schleichender, zerstörerischer Kraft an Felsbrocken gütlich – ein Schmaus, der sich über Jahrhunderte hinzieht. Eine einzige Mooskolonie kann eine ganze Felswand zunächst in Kies und später in Muttererde verwandeln. Man muss ihr nur genug Zeit lassen. Kalkgesimse werden von Moosgewächsen bevölkert, die sich wie feuchte, lebendige Schwämme ans Gestein klammern und das kalkhaltige Wasser heraussaugen. Im Laufe der Zeit entsteht ein Gemisch aus Moosen und Mineralien, das sich in Travertin verwandelt. Die harte, gelblich-helle Oberfläche des Travertin ist von blauen, grünen und grauen Adern durchzogen – Spuren der vorgeschichtlichen Moosbesiedelung. Der Petersdom, errichtet aus diesem Stein, ist somit von den Leibern winziger, uralter Moose durchsetzt.
Moos wächst, wo nichts anderes wachsen kann. Auf Ziegelsteinen. Auf Baumrinden und Dachschiefern. Jenseits des nördlichen Polarkreises ebenso wie in milden tropischen Gefilden. Auf dem Fell von Faultieren, auf dem Rücken von Schlangen und auf modernden Menschenknochen. Mit Moos, so erfuhr Alma, kündigt sich auf verbrannter Erde oder verkarstetem Boden die Rückkehr pflanzlichen Lebens an. Moos ist imstande, einem ganzen Wald neue Lebenskraft zu verleihen. Es ist ein Meister der Wiederauferstehung. Ein Büschel Moos versteht es, vierzig Jahre lang ausgetrocknet vor sich hin zu schlummern, um dann – einmal in Wasser getaucht – schlagartig zu neuem Leben zu erwachen.
Moose benötigen lediglich Zeit, und Alma begann zu begreifen, dass die Erde in dieser Hinsicht einiges zu bieten hatte. Auch andere Wissenschaftler trugen sich mit solchen Gedanken. Lange vor ihrem vierzigsten Geburtstag hatte Alma bereits die Grundsätze der Geologie von Charles Lyell gelesen, der die Behauptung aufstellte, die Erde sei sehr viel älter, als man bisher geglaubt habe – möglicherweise sogar um mehrere Millionen Jahre. Sie hegte auch große Bewunderung für das neuere Werk von John Phillips, dessen 1841 präsentierte geologische Zeitachse über Lyells Schätzungen noch hinausging. Phillips glaubte, dass die Erde bereits drei naturgeschichtliche Epochen durchlaufen habe (das Paläozoikum, das Mesozoikum und das Känozoikum), und hatte aus der Flora und Fauna jeder dieser Perioden Fossilien identifiziert, darunter einige versteinerte Moospflanzen.
Die Auffassung, dass die Erde ein unfassbar alter Planet sei, schockierte viele Menschen, widersprach sie doch der biblischen Lehre. Alma konnte indessen nichts Schockierendes daran finden. Sie hatte ihre eigenen Zeittheorien, denen die fossilen Überlieferungen aus dem Schiefergestein des Urmeers, auf die Lyell und Phillips in ihren Studien verwiesen, gerade recht kamen. Alma war zu der Überzeugung gelangt, dass im Kosmos verschiedene Zeitkategorien nebeneinander existierten und ihre Wirkung entfalteten. Als eifrige Systematikerin
Weitere Kostenlose Bücher