Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
und musterte wertlose Bücher aus. Sie sortierte die Sammelgefäße in ihren Regalen nach Größe und ersann immer raffiniertere, wenn auch überflüssige Archivierungssysteme. So kam es, dass Alma Whittaker eines frühen Morgens im Juni des Jahres 1822 in ihrem Studierzimmer saß und über den Artikeln brütete, die sie für George Hawkes geschrieben hatte. Sollte sie die alten Ausgaben der Botanica Americana nach thematischen oder chronologischen Kriterien sortieren? Im Grunde ein müßiges Unterfangen, doch es würde eine Stunde ausfüllen.
Am unteren Ende des Stapels stieß Alma auf ihren ersten Artikel, den sie im zarten Alter von sechzehn Jahren über den Fichtenspargel – Monotropa hypopitys – geschrieben hatte. Sie las ihn durch. Ihre Handschrift war noch etwas kindlich, ihr Wissen jedoch fundiert, und auch die These, dass es sich bei dieser lichtscheuen Pflanze um einen intelligenten, blutleeren Parasiten handele, erschien ihr nach wie vor stichhaltig. Nur als sich Alma ihre alten Zeichnungen ansah, stieg ein Lächeln auf ihre Lippen, so unbeholfen erschienen sie ihr. Zeichnungen wie von einem Kind, was Alma ja damals im Grunde auch war. Im Laufe der Jahre hatte sie sich zwar nicht zu einer glänzenden Künstlerin entwickelt, doch diese frühen Illustrationen waren schon sehr ungelenk. Dennoch hatte George die Freundlichkeit besessen, alle zu veröffentlichen. Almas Monotropa -Pflanze, die eigentlich auf einer Moosschicht gedeihen sollte, schien bedauerlicherweise aus einer verklumpten alten Matratze zu sprießen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die traurige, undefinierbare Masse am unteren Rand der Zeichnung als Moos zu identifizieren. Alma hätte viel mehr ins Detail gehen müssen. Als gute Naturforscherin hätte sie präzise die Vielfalt der Moosarten abbilden müssen, auf denen Monotropa hypopitys gedieh.
Bei genauerer Betrachtung wurde Alma indessen bewusst, dass sie die Vielfalt der Moosarten, auf denen Monotropa hypopitys gedieh, gar nicht kannte. Und bei noch näherer Betrachtung musste sie sich eingestehen, dass sie nicht einmal wusste, ob sie überhaupt irgendwelche Moosarten voneinander zu unterscheiden vermochte. Wie viele waren es eigentlich? Ein paar? Ein Dutzend? Mehrere hundert? Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Sie wusste es nicht.
Doch woher hätte sie es auch wissen sollen? Wer hatte jemals über Moosgewächse geschrieben? Nach Almas Kenntnis gab es nicht ein einziges Standardwerk über dieses Thema. Keine Karriere war jemals auf Moos gegründet worden. Wer hätte das gewollt? Moospflanzen waren schließlich keine Orchideen. Keine Libanonzedern. Sie waren weder groß noch schön noch auffällig. Und auch keine gewinnbringenden Heilpflanzen, mit denen ein Mann wie Henry Whittaker zu Reichtum gelangen konnte. (Wobei seine wertvollen Chinarindensamen den Transport nach Java wohl nur deshalb heil überstehen konnten, weil Henry sie in getrocknetes Moos gepackt hatte, eine Geschichte, an die sich Alma gut erinnerte.) Ob Gronovius etwas über Moos geschrieben hatte? Vielleicht. Doch die Studien des alten Holländers, die inzwischen fast siebzig Jahre zurücklagen, waren nicht nur völlig veraltet, sondern auch denkbar lückenhaft. Es lag klar auf der Hand, dass niemand dieser Materie jemals Bedeutung beigemessen hatte. Sogar Alma hatte in der Remise die zugigen Mauerritzen mit zusammengeknülltem Moos ausgestopft wie mit ganz gewöhnlichem Dämmmaterial.
Sie hatte es schlicht und ergreifend übersehen.
Alma sprang auf, schlang sich ein Tuch um die Schultern und lief, ausgerüstet mit einer großen Lupe, ins Freie. Es war frisch, ein kühler, leicht bedeckter Morgen. Die Lichtverhältnisse waren ideal. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Am Flussufer gab es eine erhöhte Stelle, von der sie wusste, dass dort im Schatten einer Baumreihe zahlreiche Kalksteinbrocken aus dem feuchten Erdreich ragten. Dort würde sie Moos finden, denn sie entsann sich, dass sie auf diesem Gelände das Material für die Isolierung ihres Studierzimmers gesammelt hatte.
Ihre Erinnerung hatte nicht getrogen. An der Baumlinie fand Alma bald den ersten Kalkbrocken wieder. Er war größer als ein liegender Ochse. Was sie vermutet und gehofft hatte, bestätigte sich: Der Felsen war über und über mit Moos bedeckt. Alma kniete sich ins hohe Gras und brachte ihr Gesicht nah heran. Vor ihren Augen erhob sich ein winziger, allenfalls zwei Zentimeter hoher und dennoch gigantischer Wald. Nichts regte sich in
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