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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Beatrix’ Tod hatte Henry keinerlei Interesse an einer neuerlichen Heirat bekundet. Er brauchte keine Frau; er hatte ja Alma. Alma war gut zu Henry, und manchmal – vielleicht einmal im Jahr – lobte er sie sogar dafür. Sie hatte gelernt, ihr eigenes Leben so zu organisieren, dass es sich bestmöglich mit Henrys Marotten und Ansprüchen in Einklang bringen ließ. Im Großen und Ganzen war sie gern mit ihm zusammen – ihre Zuneigung zu Henry blieb unerschütterlich –, auch wenn ihr schmerzlich bewusst war, dass jede mit dem Vater verbrachte Stunde Zeit war, die ihr für das Studium der Moose fehlte. Sie schenkte Henry ihre Nachmittage und Abende, doch die Vormittage nutzte sie für ihre Arbeit. Da ihm mit dem Älterwerden das Aufstehen immer schwerer fiel, funktionierte dieser Zeitplan gut. Hin und wieder wünschte er sich Gäste, wozu es jedoch immer seltener kam. Wurden einst an vier Abenden pro Woche Gäste zu Tisch gebeten, hatte man nun auf White Acre allenfalls vier Mal pro Jahr Gesellschaft.
    Henry blieb launisch und schwierig. Bisweilen wurde Alma nachts von Hanneke de Groot geweckt, an der das Alter im Übrigen spurlos vorüberzugehen schien. »Dein Vater ruft dich, Kind«, hieß es dann. Worauf sich Alma erhob, einen warmen Morgenrock überstreifte und ins Arbeitszimmer ging, wo sie einen hellwachen, gereizten, in einem Berg von Papieren wühlenden Henry vorfand, der sie um drei Uhr morgens um einen Schluck Gin und eine Partie Backgammon bat. Alma kam seinem Wunsch klaglos nach, denn sie wusste, dass Henry am nächsten Tag umso müder sein würde, was ihr zusätzliche Stunden des Studiums in Aussicht stellte.
    »Habe ich dir schon mal von Ceylon erzählt?«, fragte er, und sie hörte zu, wie er sich in den Schlaf redete. Mitunter nickte auch sie über seinen alten Geschichten ein. Zusammengesunken in ihren Sesseln, fiel das erste Tageslicht auf den alten Mann und seine weißhaarige Tochter, zwischen beiden das angefangene Backgammon-Spiel. Dann erhob sich Alma und brachte das Zimmer in Ordnung. Sie rief nach Hanneke und dem Butler, damit sie dem Vater ins Bett halfen. Derweil schlang sie hastig das Frühstück herunter und begab sich in ihr Studierzimmer in der Remise oder zu den Moosfelsen, um sich abermals ihren Forschungen zu widmen.
    So hatte es sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zugetragen. Und so würde es bleiben, dachte sie. Es war ein ruhiges, nicht unglückliches Leben für Alma Whittaker.
    Nein, unglücklich war dieses Leben beileibe nicht.
    •
    Andere hatten es weniger gut.
    Almas alter Freund George Hawkes zum Beispiel, dem in der Ehe mit Retta Snow kein Glück beschieden war. Auch Retta war in keiner Hinsicht glücklich. Dieses Wissen schenkte Alma weder Trost noch Freude. Eine andere Frau hätte vielleicht – aus finsterer Rache für ihr gebrochenes Herz – darüber gejubelt, doch Alma vermochte aus dem Leid anderer keine Befriedigung zu ziehen. Hinzu kam, dass sie, sosehr sie diese Heirat auch einst geschmerzt hatte, George Hawkes inzwischen nicht mehr liebte. Das Feuer war schon vor Jahren erloschen. Ihn weiter zu lieben wäre angesichts der gegebenen Umstände über die Maßen töricht gewesen, und sie hatte sich schon zu lange wie eine Närrin benommen. Dennoch tat George ihr leid. Er war eine gute Seele, und er war ihr immer ein treuer Freund gewesen, aber noch nie hatte ein Mann in Sachen Heirat eine schlechtere Wahl getroffen.
    Anfangs hatte er, der seriöse wissenschaftliche Verleger, lediglich mit einer gewissen Verwirrung auf seine sprunghafte, kapriziöse Gemahlin reagiert; im Laufe der Zeit war diese Verwirrung indessen einem wachsenden Unmut gewichen. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten George und Retta das ein oder andere Mal auf White Acre diniert, doch Alma war nicht entgangen, dass sich Georges Miene verfinsterte, wann immer seine Frau das Wort ergriff. Ängstlich schien er darauf zu lauern, was sie wohl wieder von sich geben würde. Irgendwann stellte George das Sprechen bei Tisch vollständig ein – in der Hoffnung, so schien es, dass auch seine Frau folglich das Sprechen einstellen würde. Bedauerlicherweise ging sein Wunsch nicht in Erfüllung. Im Gegenteil, die Schweigsamkeit ihres Gatten machte Retta zusehends unruhig, was dazu führte, dass sie immer verzweifelter weiterplapperte und er immer entschlossener schwieg.
    Innerhalb weniger Jahre hatte Retta eine bizarre Gestik entwickelt, deren Anblick Alma quälte. Beim Sprechen fuchtelte sie nervös

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