Das Wesen. Psychothriller
den Gedanken im gleichen Moment aus, in dem er mir kam, und versuchte damit, das Gespräch bewusst von Nicole Klement abzulenken.
»Was?«, fragte Menkhoff.
»Was ist mit der Mutter? Die haben wir bei unseren Überlegungen eben außen vor gelassen, wegen der zwei Wohnungen, meine ich. Vielleicht haben die beiden sich getrennt, bevor das Kind zur Welt kam, und Lichner hat eine der Wohnungen für die Mutter und das Kind gemietet, die andere für sich? Wenn die Frau wirklich eine Polin ist … wer weiß? Keine Arbeit? Keine Aufenthaltsgenehmigung? Da gibt’s doch eine ganze Menge möglicher Erklärungen.«
Er erwiderte eine ganze Weile nichts darauf, und ich ließ ihn in Ruhe darüber nachdenken. Dann sagte er unvermittelt: »Alex?«
»Ja?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
22
15. Februar 1994
Noch einmal nahm ich mir den Bericht über die Anwohnerbefragungen vor. Marlies Bertels, 81 Jahre: …
Nein, von meinem Fenster aus kann man gar nicht auf den Spielplatz sehen, die Hecken verdecken ihn.
Als Menkhoff und ich sie am Vortag gefragt hatten, wie oft sie Dr. Lichner gesehen hätte, sagte sie:
Dreimal habe ich ihn am Spielplatz gesehen.
Am Spielplatz? Ich ging meine Notizen nochmal genau durch. Nein, sie hatte tatsächlich an keiner Stelle davon gesprochen, etwas
auf
dem Spielplatz beobachtet zu haben, das hatten wir ihr in den Mund gelegt. Sie hatte ausgesagt,
am
Spielplatz.
Wir hatten ihr unrecht getan. Das bestärkte den Verdacht gegen Lichner natürlich noch. Blieb aber immer noch die Frage, warum sie erst zwei Wochen nach der ersten Befragung mit ihrer wichtigen Beobachtung herausgerückt war. Was hatte sie wirklich gesehen und was nicht?
Die Nachbarn! Die direkten Nachbarn mussten doch etwas über Marlies Bertels sagen können. Ich überlegte kurz, stand auf und ging meine Jacke holen.
23
23. Juli 2009
Im Aachener Klinikum war ich schon häufig gewesen, meist aus dienstlichen Gründen, um das Opfer einer Körperverletzung zu befragen, oder – Gott sei Dank nur in ganz seltenen Fällen – wegen eines Mordopfers. Jedes Mal, wenn der futuristisch anmutende, riesige Gebäudekomplex vor mir auftauchte, fragte ich mich aufs Neue, was im Kopf eines Architekten vor sich gegangen sein mochte, der ein solches Gewirr aus unterschiedlich dicken, freiliegenden Versorgungsrohren, Gittern und Geländern entwarf. Das Wissen darum, dass es sich dabei um einen eigenen Baustil handelte, der mit dem Begriff
technische Moderne
beschrieben wurde, machte es auch nicht besser.
Wir hatten Glück, ich fand einen Parkplatz in der Nähe des Haupteingangs. Wir erkundigten uns am Informationsschalter und liefen durch Flure, deren Wände und Böden in knalligen Grün-, Silber- und Gelbtönen gehalten waren und an deren Decken die Heizungs- und Lüftungsrohre unverkleidet entlangliefen, was wohl eine Verbindung zu der Außengestaltung herstellen sollte. Mit einem Aufzug, der die dick auf die Türen gemalte Aufschrift
B3
trug, fuhren wir in die fünfte Etage, wo wir schließlich in einem mit
Flur 6
gekennzeichneten Bereich das Stationszimmer der Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe fanden. Eine Reise durch eine kleine, hochtechnisierte Stadt.
Die Stationsschwester war eine unauffällige Mittdreißigerin. Auf einem Namensschild an der Brusttasche ihres grünen Kittels stand
Gabi
. Wir zeigten Gabi unsere Ausweise und benötigten knappe zehn Minuten, dann hatten wir sowohl den Eintrag im Computer vor uns als auch die ausgedruckte Geburtsbescheinigung eines Mädchens mit Namen Sarah Lichner. Als Vater eingetragen war Dr. Joachim Lichner, Deutscher, wohnhaft in Aachen, Zeppelinstraße, Mutter Zofia Kaminska, Polin, ebenfalls wohnhaft in der Zeppelinstraße. Das Mädchen hatte bei der Geburt 3460 Gramm gewogen, Größe: 51 Zentimeter, Name der Hebamme: Anna Gerling, der Gynäkologe hieß Dr. Richard Bartholomé. Die betreffenden Unterlagen waren laut eines Vermerks am Dienstag, dem 19. Juni 2007, mit dem Botendienst ans Standesamt Aachen weitergeleitet worden.
»Na, jetzt überzeugt?«, fragte Menkhoff.
Ich warf noch einmal einen Blick auf das Dokument: »Sagen Sie, Schwester Gabi, ist dieser Dr. Bartholomé noch hier beschäftigt?«
Sie zog die Stirn kraus. »Wer?«
»Dr. Bartholomé, der Arzt, der bei der Geburt dabei war.«
Sie sah mich verwirrt an und nahm die Geburtsbescheinigung in die Hand. »Das … ich weiß nicht, ich kenne keinen Arzt, der so heißt.«
»Vielleicht ist er nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher