Das Wesen. Psychothriller
knallige Abwechslung.
Als wir uns auf der Couch schräg gegenübersaßen, zog ich meinen Notizblock heraus und legte ihn vor mich. »Frau … Leistroffer, ich muss mich entschuldigen, ich habe Ihre Familienverhältnisse nicht parat. Sind Sie verheiratet?«
»Oh ja, seit 41 Jahren, und das sogar glücklich.« Ein flüchtiges, sympathisches Lächeln zog über ihr Gesicht. »Mein Mann ist gerade in der Stadt, ich konnte ihn endlich dazu überreden, sich ein Paar neue Schuhe zu kaufen. Aber jetzt sagen Sie mir doch bitte, welche Fragen haben Sie denn noch an mich? Ich habe Ihren Kollegen alles erzählt, was ich weiß, und das ist nicht sehr viel, wenn es um die Familie Körprich geht. Sie waren beide immer sehr nett und freundlich, Ihre Tochter war gut erzogen.« Sie machte eine kleine Pause. »Das arme Kind.«
»Es geht bei meinen Fragen auch gar nicht um die Familie Körprich, sondern um Ihre Nachbarin, Frau Bertels.«
Ihr Gesicht veränderte sich. »Oje …«
»Oje? Was heißt das? Mögen Sie Frau Bertels nicht?«
Sie beugte sich ein Stück weit nach vorne, stützte die Unterarme auf den Oberschenkeln ab und faltete die Hände. »Ach wissen Sie«, sagte sie und betrachtete dabei ihre Hände. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich jedes Wort genau überlegte, bevor sie es aussprach. »Die Menschen verändern sich, wenn sie alt werden, wir alle verändern uns. Die einen werden weise und gütig, die anderen werden unzufrieden und machen ihrer Umwelt das Leben recht schwer … manchmal.«
»Und Marlies Bertels gehört Ihrer Meinung nach zur zweiten Kategorie?« Es dauerte eine Weile, bis sie zögerlich nickte. Dann sah sie mich offen an. »Ich mag es nicht, über andere Menschen zu reden, wenn ich nichts Gutes über sie sagen kann, aber Frau Bertels ist ein schwieriger Mensch. Ich denke, es liegt daran, dass sie schon so lange alleine ist. Ihr Mann ist vor 15 oder 16 Jahren gestorben.«
»Wie macht sich das bemerkbar? Ich meine, dass sie schwierig ist.«
»Ach, ganz allgemein. Sie sitzt den ganzen Tag hinter ihrem Fenster und beobachtet, was draußen vor sich geht. Über jeden in der Straße weiß Frau Bertels etwas zu berichten, und es ist selten etwas Gutes.«
Ich schrieb stichwortartig mit. »Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu ihr? Haben Sie Kontakt?«
»Nein, es sei denn, ich treffe sie mal auf der Straße. Ich grüße sie immer, manchmal grüßt sie zurück, manchmal nicht.«
»Hm … Und wie gut kennen Sie den Dr. Lichner?«
Sie schürzte die Lippen. »Dr. Lichner? Flüchtig. Wir waren zwei-, dreimal bei ihm eingeladen, zur Eröffnung seiner Praxis und einmal zu einem Geburtstag, zu dem er die halbe Straße eingeladen hatte, aber sonst …«
»Was halten Sie von ihm?«
Nun richtete sie den Oberkörper wieder auf. »Geht es etwa um den Streit, den die beiden im Herbst hatten?«
»Welchen Streit meinen Sie?«
»Also geht es nicht darum?«
»Von einem Streit zwischen Frau Bertels und Dr. Lichner wussten wir bisher nichts. Wann genau war das, und worum ging es bei diesem Streit?«
»Ach, wir veranstalten jedes Jahr im Oktober ein kleines Nachbarschaftsfest im Wendekreis, zum Abschied des Sommers. Jeder bringt was mit, Salate, ein bisschen was zum Grillen, Getränke … ein gemütliches Beisammensein unter Nachbarn. Im letzten Jahr hat Frau Bertels bei diesem Fest wohl eine sehr abfällige Bemerkung über Dr. Lichners Freundin gemacht. Er hat das gehört und hat ziemlich die Fassung verloren. Er wurde laut und nannte sie eine senile, unverschämte alte Schachtel.«
»Was? Eine heftige Reaktion für einen Psychiater«, stellte ich fest, woraufhin sie nickte.
»Ich glaube, sie hatte richtige Angst vor ihm. Sie hat geweint und das Fest gleich darauf verlassen. Seitdem reden die beiden kein Wort mehr miteinander.« Sie wartete, bis ich alles aufgeschrieben hatte. »Wir haben anschließend noch darüber gesprochen, und Hans – mein Mann – meinte, ein Psychiater ist auch nur ein Mensch, dem es auch mal erlaubt sein muss, Gefühle zu zeigen.« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel. »Er meinte, sie wäre noch verhältnismäßig gut weggekommen. Wenn sie so über mich geredet hätte, hätte sie von ihm ganz andere Dinge zu hören bekommen.« Es entstand eine kurze Pause, dann sah sie mich mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Sagen Sie mal, Herr Kommissar, fragen Sie eigentlich unsere Nachbarn auch über mich und meinen Mann aus?« Eine logische Frage, und es klang weder verärgert
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