Das Wesen. Psychothriller
ihm zu reden. Nicht, weil ich kein Verständnis für ihn hatte, nein, es lag daran, dass mir etwas anderes durch den Kopf ging. Gedanken, die mir schon im Ansatz so sehr zusetzten, dass mir schwindelig wurde. Wie die Planeten eines Sonnensystems drehten sich alle diese Gedanken um einen Satz:
Ich musste sie beschützen.
Menkhoff öffnete die Grappaflasche und füllte die bauchigen Gläser neu. Er hob sein Glas und prostete mir zu. Als er es leer wieder zurückgestellt hatte, ließ er sich gegen die dick gepolsterte Rückenlehne zurücksinken und starrte mit glänzenden Augen auf einen Punkt in der Mitte des Tisches. »Es ist ein ziemliches Scheißgefühl, jahrelang mit jemandem zusammenzuleben, den man bedingungslos liebt, den man aber gleichzeitig fast überhaupt nicht kennt. Das größte Problem dabei ist, dass man viele Dinge einfach nicht versteht. Dinge, die der Partner tut.« Er machte eine Pause. »Oder die er nicht tut. Das macht einen verrückt, Alex, kannst du dir das vorstellen?« Bevor ich antworten konnte, sagte er: »Nein, das kannst du nicht. Wie auch …« Er beugte sich nach vorne und schenkte sich nach. Dieses Mal füllte er das Glas fast bis zum Rand. Als er die Flasche auf mein Glas zubewegte, winkte ich ab. »Nein, danke, ich hab noch genug.«
Er trank in einem Zug aus und ließ sich wieder zurückfallen. »Das ist alles eine solche Scheiße. Es ist wie … es ist zum Verrücktwerden, verstehst du? Und irgendwann, irgendwann denkst du, du musst dem anderen schon ziemlich egal sein, wenn er … weil
sie
dich immer und immer wieder abblitzen lässt, wenn du versuchst, sie zu verstehen.«
»Hat sie … hat sie sich denn während der Zeit, in der ihr zusammen gewesen seid, sonst irgendwie … komisch benommen?«
Er sah mich fragend an. »Bernd … ich meine, ob es vielleicht irgendwelche Sachen gegeben hat wie das mit diesen kleinen Katzen.«
Er verstand noch immer nicht. Im ersten Moment. Dann dämmerte es ihm, und er riss die Augen auf. »Was? Fragst du mich allen Ernstes, ob Nicole vielleicht kleine Katzen umgebracht hat, während wir zusammen waren?«
Dieser Blick. Gedanken rasten mir durch den Kopf wie Schilder, die beim Bericht über eine Großdemo in die Kamera gehalten werden. Jetzt oder nie. Wahrheit oder Lüge. Wieder Angst oder Wahrheit …
»Ja, so was in der Art meinte ich.«
Er saß da, sein Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus.
»Bernd, da steht, sie hat ihrer Tante gesagt, sie musste die kleinen Katzen
beschützen
. Wahrscheinlich, weil der Kerl ihr gesagt hat, dass nur der Tod –«
»Verdammt nochmal, sie war schwer traumatisiert, Alex. Hast du den Verstand verloren? Du hast doch gerade gelesen, was sie durchmachen musste. Du kannst doch nicht ernst nehmen, was ein kleines
Kind
sagt, nachdem es immer wieder
vergewaltigt
worden ist.« Er sprach undeutlich, der Grappa tat seine Wirkung.
»Das tue ich ja nicht. Aber was ist mit heute Nachmittag, in ihrer Wohnung, diese Fotos von den kleinen Mädchen auf ihrem Schrank, du hast sie doch gesehen und weißt genau, was sie gesagt hat. Beschützen, Bernd, beschützen will sie die Mädchen!«
Seine Augen weiteten sich, ganz kurz nur, dann schüttelte er den Kopf. »Diesen Blödsinn hör ich mir nicht länger an, Alex.«
Erneut füllte er sein Glas bis zum Rand mit dem goldgelben Schnaps und kippte es in einem Zug runter. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und sagte: »Weißt du, Alex …«, es hörte sich an wie:
Weissu Alex
, »manchmal geht die Phantasie mit einem durch, verstehst du? So wie bei dir jetzt. Aber weil du mein Partner bist, sehe ich es dir nach
(seh ichessir nach)
. Und deshalb gehst du jetzt besser nach Haus und schläfst. Und morgen lachst du über deine Schnapsidee. Gute Nacht. Apropos Schnaps …« Er griff ein weiteres Mal nach der Flasche, und ich war erst versucht, seine Hand festzuhalten, überlegte es mir dann aber anders. Sollte er sich betrinken.
Ich erhob mich, ging um den Tisch herum zu Menkhoff, der den Kopf hob und mich mit einem etwas verklärten Blick ansah, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Übertreib’s nicht mit dem Schnaps, Bernd«, sagte ich und achtete darauf, dabei nicht oberlehrerhaft zu klingen. »Leg dich ins Bett und schlaf ’ne Runde. Morgen früh sehen wir weiter.«
»Ja, genau«, antwortete er, nun deutlich lallend. »Schlaf du auch ’ne Runde. Und morgen entschuldigst du
(enschullichssu)
dich bei Nicole. Für den Blödsinn nämlich, den
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