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Das Wesen. Psychothriller

Das Wesen. Psychothriller

Titel: Das Wesen. Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Strobel
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abgepackten Stück Bergkäse in der Kühltheke griffen. Erich war im Archiv der Stadtverwaltung angestellt, Fachbereich Wohnen. Er war einundvierzig, untersetzt und mit 1,72 nur einen Zentimeter größer als Katharina. Alles an Erich Zöller war weich. Der Bauch und die hängende Brust, die schwabbeligen, leichenblassen Oberschenkel ebenso wie die wulstigen Lippen, über die er immer wieder leckte. Selbst wenn man über Geschmack nicht streiten kann und es unterschiedliche Auffassungen von schön gibt, hätte man wohl keine Frau gefunden, die Erich als attraktiv, geschweige denn als gutaussehend bezeichnet hätte. Die meisten hätten seine Gestalt wahrscheinlich sogar als abstoßend empfunden, doch Katharina Klement überging dieses Gefühl, denn es gab etwas, was für sie wichtiger war: Erich Zöller hatte ein festes Einkommen und führte ein durch und durch geregeltes Leben. Zwei Monate nachdem sie sich vor der Kühltheke getroffen hatten, zog er bei Katharina ein und übernahm das Ruder. Da war Nicole gerade ein Jahr alt. Katharina wusste sich versorgt, und das Kind auch, und fand heraus, dass das Leben mit zwei Promille Alkohol im Blut so unglaublich leicht und einfach war, dass sie fortan kaum noch nüchtern anzutreffen war. Als das Mädchen anfing zu sprechen, nannte sie Erich Zöller
Papa
.
    Das erste Mal, an das Nicole sich erinnern konnte, dass Papa mit seinen fleischigen Fingern, die so weh taten, in ihrem Körper herumgebohrt hatte, war drei Jahre später. Was immer er vorher gemacht haben mochte – sie war zu klein gewesen, um es in ihrem Gedächtnis speichern zu können.
    Mit fünf dann reichten ihm die Finger nicht mehr aus, und er entwickelte einen großen Einfallsreichtum bei der Auswahl der Gegenstände, die er zu Hilfe nahm. Mittlerweile hatte er dem Mädchen auch gezeigt, was sie an ihm tun sollte, während er mit ihrem Körper beschäftigt war. Es verging fast kein Tag, an dem er sich nicht mit ihr irgendwohin zurückzog, um
Das große Geheimnis
zu spielen. Das große Geheimnis war etwas, was man unter gar keinen Umständen jemandem erzählen durfte. Und außerdem war das große Geheimnis etwas, vor dem man nicht davonlaufen konnte, weil es zum Leben gehörte. »Du weißt, Niki«, sagte er jedes Mal, wenn sie zitternd vor ihm saß, bevor er mit dem großen Geheimnis an ihr begann, »du weißt, dass das große Geheimnis erst dann aufhört, wenn man tot ist.« Niki nickte und merkte es sich. Dann schloss sie jedes Mal die Augen und stellte sich eine wunderschöne Wiese vor, über die sie barfuß mit ihrer Mama lief. Sie spielten Fangen, und Mama hob sie hoch, wenn sie sie gefangen hatte, und drehte sich ganz schnell mit ihr, so schnell, dass ihre Haare flogen. Und sie lachten beide ganz laut, so laut, dass Nicole ihr eigenes Schluchzen und Wimmern nicht hörte, während Papa stöhnend an ihr mit dem großen Geheimnis beschäftigt war. Dann, wenn Papa fertig war und ging, wenn sie sich weinend in einer Ecke zusammenkauerte, weil sie sich so schlecht vorkam, dann wusste sie, dass es die Wiese mit dem Lachen nie geben würde, solange es das große Geheimnis gab. Und weil das große Geheimnis erst aufhörte, wenn man tot war, würde es die Wiese mit dem Lachen überhaupt niemals geben.
    Aber nie dachte Nicole auch nur im Traum daran, jemandem etwas vom großen Geheimnis zu erzählen, und am allerwenigsten ihrer Mutter. Wozu auch? Mama wollte schließlich, dass Papa sich um sie kümmerte.
    Mit sieben befand Papa Erich seine kleine Niki für alt genug, sie auch in den letzten Teil des großen Geheimnisses einzuweihen. Als sich der menschliche Berg dunkel und heiß und schwitzend und schlimm riechend wie wild auf ihr gebärdete, schaffte Nicole es nicht einmal mehr, sich ihre Lach-Wiese vorzustellen, und sie war sicher, nun endlich zu sterben. Vor Schmerz und vor Angst und weil sie sich so schlecht fühlte, weil sie bestimmt alles falsch gemacht hatte. Wegen ihrer Angst. Vor allem wegen ihrer Angst.
    Sie war nicht gestorben, als es vorbei war, und sie wusste, dass es überhaupt nicht vorbei war, sondern gerade erst begonnen hatte.
    Das Sterben, soweit sie es verstand, barg keine Schrecken für Nicole. Wenn es irgendwann kam, war es vor allem anderen die Erlösung vom großen Geheimnis.
     
    Menkhoff ließ das Blatt sinken, das er gerade in Händen hielt – es musste etwa die zehnte Seite sein –, und stöhnte auf. Mir war das, was ich bis dahin gelesen hatte, derart auf den Magen geschlagen, dass ich

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