Das Wetter vor 15 Jahren
eine Geschichte zu lesen beginnt, automatisch seinen Verstand bei der Garderobe abgibt und einfach will, dass die beiden sich kriegen. Man will gar nicht darüber nachdenken, ob Anni vielleicht mit dem Hotelier die bessere Partie macht. Man identifiziert sich mit Vittorio.
Literaturbeilage Also ich hab mich mit Anni identifiziert.
Wolf Haas Punkt fünf - ja okay, mit Anni. Punkt fünf. Sie haben sich mit Anni identifiziert. Aber sicher nicht mit Lukki. Jetzt hab ich Punkt fünf vergessen.
Literaturbeilage Übrigens hätten Sie sich nicht so ausführlich rechtfertigen müssen. Sie haben mich ja unterbrochen, um meinen Satz fortzuführen, den ich mit „plump gesagt" begann, also was Lukki im Frühstücksraum über Anni erzählen könnte. Nach „plump gesagt" darf man alles sagen. Aber jetzt mal nicht plump, sondern ehrlich gesagt: Ich hab natürlich auch gehofft, dass die beiden sich kriegen. Darum liest man doch solche Geschichten ürgendwie.
Wolf Haas Sie kennen bestimmt den Satz: „Die Metapher ist klüger als ihr Verfasser."
Literaturbeilage Lichtenberg. Der Satz ist würklich ziemlich klug.
Wolf Haas Er verrät aber erst die halbe Wahrheit. Die Metapher ist nämlich nicht nur klüger als der Verfasser. Sie ist auch klüger als der Leser.
Literaturbeilage Sie halten mich also für blöd!
Wolf Haas Also ich - das ist ein Scherz, oder?
Literaturbeilage Sie sind ein Blitzgneißer! Aber zurück zum Thema. Zurück zu Ihrem Buch. Ich finde es ja sehr bezeichnend, dass unser Gespräch sich gerade hier so weit von Ihrem Text entfernt hat. An dieser schmerzhaften Stelle, wo Anni und Lukki so glücklich in den Frühstücksraum spazieren.
Wolf Haas Ich hab ja selber am meisten darunter gelitten.
Literaturbeilage Also auch den Verstand bei der Garderobe abgegeben?
Wolf Haas Gerecht sind solche Empfindungen jedenfalls nicht. Lukki war sogar sehr herzlich zu ihm. Er hat am Morgen den Namen in der Gästeliste gelesen, und dann haben sie sich gleich auf die Suche nach ihm gemacht. Sie haben sich wirklich gefreut über den prominenten Besuch, der ihr Dorf bekannt gemacht hat. Für einen Hotelier ist so eine kostenlose Fernsehwerbung natürlich ein Geschenk des Himmels.
Literaturbeilage Für Anni war es wohl wesentlich zwiespältiger.
Wolf Haas Eigentlich nicht so schlimm. Paradoxerweise hat ihr gerade die durchwachte Nacht nach dem Fernsehauftritt geholfen, diese ganze Geschichte abzuschließen.
Literaturbeilage Eine Art verspätete Trauerarbeit.
Wolf Haas Sie war einfach gezwungen, sich der ganzen Geschichte noch einmal zu stellen. Und sich auch innerlich von ihm zu verabschieden sozusagen. Also ich glaube, es hätte sie wesentlich mehr irritiert, wenn er einfach so im Hotel aufgetaucht wäre. Ohne die Sendung davor.
Literaturbeilage Das erklärt auch, warum sie jetzt, wo sie an Lukkis Seite den Frühstücksraum betritt, nur noch strahlende Braut zu sein scheint.
Wolf Haas Ganz so ist es natürlich nicht. Aber zumindest äußerlich. Und sie freut sich ja auch wirklich, Vittorio zu sehen. Sie strahlt auch deshalb, weil sie ihn wiedersieht.
Literaturbeilage Es ist dies eine der wenigen Stellen im Buch, wo Ihrem Erzähler seine stets freundliche, geradezu schmerzhaft positive Sicht der Dinge kurz abhanden kommt. Sie lassen ihn sagen, dass er „wie ein Idiot" im Frühstücksraum von Lukkis Prachthotel saß, während ihn das strahlende Brautpaar wörtlich „umringte".
Wolf Haas Ja „umringte", das gefällt mir auch. Zwei Leute können einen streng genommen nicht umringen, aber wenn man sitzt und ein strahlendes Brautpaar pflanzt sich vor einem auf -
Literaturbeilage - und man ist in die Braut verliebt -
Wolf Haas - kann man sich schon umringt fühlen.
Literaturbeilage Und darum ja auch seine phantastischen Begrüßungsworte.
Wolf Haas „Das ist eine Frechheit!" Er selber hat es nicht gerade phantastisch gefunden. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, nachdem ihm das herausgerutscht ist.
Literaturbeilage Also ich fand es gut, wie es da aus ihm herausbricht.
Wolf Haas Aber ihm war es wahnsinnig peinlich.
Literaturbeilage So eine schlagfertige Antwort hätte ich ihm ürgendwie gar nicht zugetraut.
Wolf Haas Das wäre eher etwas, das man von Riemer erwartet hätte. Schlagfertigkeitstraining ist ja der wichtigste Punkt im Lehrplan von Ran an die Frau. Und vor allem von Ran an die Frau für Fortgeschrittene.
Literaturbeilage Der Satz „Das ist eine Frechheit" kommt hier ja nicht zum ersten Mal
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