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Das Wetter vor 15 Jahren

Das Wetter vor 15 Jahren

Titel: Das Wetter vor 15 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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im Buch vor.
    Wolf Haas Das steht eben für eine ganz bestimmte Umgangskultur, oder wie man das nennen soll. „Das ist eine Frechheit!" war ein Satz, den ihre Eltern gern äußerten, wenn sie sich irgendwo um ihre Rechte geprellt fühlten. Wenn sich wer an der Kassa vorgedrängt hat, oder ein Sonderangebot wird an der Supermarktkassa zum Normalpreis verrechnet. Oder im Restaurant kriegen die Leute am Nebentisch das Essen vorher, obwohl sie später gekommen sind. Und zum Beispiel bei der immer wieder aufkeimenden Blutorden-Streiterei haben es sich die beiden Väter auch mit schöner Regelmäßigkeit an den Kopf geworfen.
    Literaturbeilage „Das ist eine Frechheit."
    Wolf Haas Ich hab das mit der Frechheit so betont, weil mir irgendwann aufgefallen ist, dass es in unserer Gesellschaft so eine soziologische Trennlinie gibt. Die „FairFrechheit-Linie" sozusagen. Wo die einen noch nobel sagen, sie fänden etwas „unfair", poltern die unterprivilegierten Angstbeißer sofort los: „Das ist eine Frechheit!"
    Literaturbeilage Gelassenheit muss man sich eben leisten können.
    Wolf Haas Und den Kindern waren diese eskalierenden Situationen immer wahnsinnig peinlich. Wenn ihre Eltern wieder einmal lautstark über irgendeine „Frechheit" empört waren. Ich hab das ja nur deshalb erwähnt, weil es etwas war, das Vittorio und Anni von klein auf zusammengeschweißt hat. Dass sie sich für ihre Eltern geschämt haben.
    Literaturbeilage Während zum erwachsenen Vittorio das Frechheitsgetöse eigentlich gar nicht mehr passt. Er ist in das Milieu aufgestiegen, wo man „unfair" sagt.
    Wolf Haas Genau, Anni und Lukki haben es ja dementsprechend auch als Scherz aufgefasst!
    Literaturbeilage Als Ironie. Nicht wörtlich genommen. Genau umgekehrt wie bei den simplen Polemikern, die ironische Äußerungen wörtlich nehmen. Sie haben vorhin übrigens auch „unfair" gesagt, als ich das gemacht habe. Wolf Haas Meinetwegen. Vittorio ist jedenfalls selten im Leben etwas so ernst gewesen. Er empfand es als Riesenfrechheit, dass Lukki Anni kriegen soll.
    Literaturbeilage Das macht es gerade so schmerzhaft, dass er nicht ernst genommen wird.
    Wolf Haas Er explodiert fast vor Kummer sozusagen. Oder, was rede ich da, „explodiert fast vor Kummer", das ist schon ziemlich übertrieben -
    Literaturbeilage Finde ich nicht übertrieben. Genauso kommt's rüber im Buch. Es heißt: „Das Brautpaar strahlte mich aus seinen vier Augen so glücklich an, dass meine Ohren zu singen anfingen. Singen ist okay", sagt er. Also seine Kontrolle des Ohrensingens bezieht sich auf diesen Volkshochschulkurs gegen das Erröten, wo er nach dieser Methode -
    Wolf Haas Mergan-Methode.
    Literaturbeilage - gelernt hat, das Aufsteigen des Blutes zu kontrollieren. Diesen Kurs gegen das Erröten fand ich übrigens nicht so toll.
    Wolf Haas Aber hier kann ich's gut brauchen.
    Literaturbeilage Ja, an der Stelle ist es schon eindrucksvoll, wie er gegen das Erröten ankämpft mit dieser -
    Wolf Haas Mergan-Methode.
    Literaturbeilage Aber sonst hat mich das etwas genervt, all die Kurse, Riemer mit seinem Ran an die Frau und seinem Italienischkurs. Da hätte ich nicht unbedingt auch noch einen Kurs gegen das Erröten gebraucht.
    Wolf Haas Das hat Sie genervt?
    Literaturbeilage Stellenweise. Etwas.
    Wolf Haas Wenn Sie so schnell genervt sind, sollten Sie vielleicht einen Kurs für autogenes Training belegen.
    Literaturbeilage Ja sehr witzig. Aber hier, da geb ich Ihnen Recht, spürt man den gewaltigen Druck, unter dem er steht, wenn er sagt, singende Ohren sind okay. Weil Singen ja etwas anderes sei als „rotes Glühen"!
    Wolf Haas Er glaubt, dass ihm deshalb die „Frechheit" herausgerutscht ist.
    Literaturbeilage Weil er versucht hat, das rote Glühen unter der neuralgischen Grenze seiner Kieferknochen zu halten.
    Wolf Haas Genau. Weil es auf Mundhöhe zu einem emotionalen Stau kam sozusagen. Er hatte ja die Absicht, etwas möglichst Gelassenes zu den beiden zu sagen. Er hat innerlich um einen coolen Kommentar gerungen wie: „Hab ich mir gleich gedacht, als ich gestern den Zettel an der Rezeption gelesen hab." Oder so was Ähnliches. Aber ihm ist nichts eingefallen.
    Literaturbeilage Er sagt nicht, es sei ihm nichts eingefallen. Es heißt: „Aber ürgendwie muss mir das Blut, das in meinen Kopf schießen wollte, dadurch, dass ich es nicht höher steigen ließ als bis zum Haarflaum an der Unterseite der Ohrläppchen, also genau bis auf Höhe meines Mundes, den falschen Satz auf

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