Das Wiegen der Seele (German Edition)
hielt das Brot halb zum geöffneten Fenster hinaus und biss ab, sobald es die Verkehrsverhältnisse erlaubten. Das Summen des Motors wurde zu einem Dröhnen und bei jedem Schaltgang ertönte das Getriebe mit einem Krachen. Gegenüber dem REWE bog er ab und donnerte über die Wiedfeldtstrasse. Obwohl er kein Warnsignal am Auto hatte, störte ihn die Geschwindigkeitsbeschränkung von dreißig Stundenkilometern auf der Strecke wenig. Der rote Lack glänzte in den ersten schwachen Sonnenstrahlen und das Chrom der Stoßstange blitzte. Auch die Heckscheibe reflektierte die Sonnenstrahlen und spiegelte sie tückisch. Er zog seine Sonnenbrille auf, denn sein Brummschädel reagierte auf jeden Lichtstrahl mit einem zuckenden Schmerz. Das Benzin war knapp, die Warnanzeige blinkte, doch Nettgen fuhr meist auf Reserve.
Sein Weg führte ihn auf die Heisinger Straße zum Industriedenkmal der ehemaligen Zeche Carl Funke . Nach etwa vier Kilometern erreichte er das Gebiet, das sich rechtsseitig der Hauptstraße direkt am See befand. Schon von Weitem waren die Blaulichter der Polizei- und Rettungskräfte zu erkennen, die sich vor dem Förderturm aufreihten. Dicht neben dem Einsatzfahrzeug der Spurensicherung parkte Nettgen seinen Mustang, nahm sich die schwarze, mit Fingerabdrücken bematschte Sonnenbrille ab und schlug die Fahrertür mit einem Scheppern ins Schloss.
In diesem Moment stand auch schon ein gut gekleideter Mann neben ihm. Er hielt in seiner Hand ein Mikrofon mit der Aufschrift WDR . Gleich dahinter stand noch ein Mann, bewaffnet mit einer laufenden Kamera.
„Kommissar Nettgen, können S ie schon Angaben über den Tathergang machen? Wer ist das Opfer, haben Sie schon eine Spur?“
Genervt, doch ohne Zögern steuerte Nettgen auf ein Stahlschiebetor zu, das zur Hälfte offenstand und von einem Polizisten bewacht wurde.
Er kannte den Reporter. Eigentlich zu gut, denn er war vor ein paar Monaten zufälligerweise in Nettgens Faust gelaufen. Seinetwegen hatte Nettgen ein Disziplinarverfahren an den Hals bekommen, das jedoch glücklicherweise eingestellt worden war. Nettgens Meinung nach hatte der Reporter selbst schuld. Er hatte einfach nicht von ihm abgelassen, wollte unbedingt seine Story senden und hatte dabei die Ermittlungen in einem Mordfall behindert. Er hatte Nettgen damals so sehr provoziert, dass dieser ausgeholt und ihm einen Faustschlag auf die Nase verpasst hatte.
„Hören S ie auf, blöde Fragen zu stellen um kümmern S ie sich um I hren eigenen Dreck!“, antwortete Nettgen gröber als beabsichtigt. „Sie wissen doch zu gut, wie ich in solchen Situationen verfahre!“
Er widmete dem Reporter keinen Blick und zeigte stattdessen dem Polizisten seinen Dienstausweis. Dann betrat er die Fabrikhalle. Sie lag im Halbdunkel. Mehrere Container standen beidseitig aufgereiht entlang der Wände. Zerdrückte Konservendosen und Zeitungen häuften sich auf dem verdreckten Boden. Feiner Staub und der Geruch von altem Maschinenfett lag in der Luft. Vereinzelt hatten Graffiti- Sprüher ihre Spuren in Form von Schriftzügen und Bildern an den Wänden hinterlassen.
Er ging zu einer Tür, die in einen weiteren Raum führte, der künstlich beleuchtet wurde und aus dem die Stimmen seiner Kollegen zu hören waren. Vier Neonlampen mit Glasschirmen hingen an der Decke und warfen grelle, einander überlappende Lichtstrahlen auf den mit Steinen gepflasterten Boden. Der Raum bot einen eher öden Anblick. Er hatte keine Fenster und von den Wänden bröckelte an dutzenden Stellen der Putz. In der Luft hing ein verdorbener Geruch. Nettgen hielt sich vor Übelkeit ein benutztes Stofftaschentuch vor Nase und Mund, während er auf seine Kollegen von der Spurensicherung zuging, die sich am Ende des Raumes aufhielten.
Sie alle standen oder knieten um etwas, das auf dem Boden lag. Blitzlichter zuckten aus ihren Kameras und erhellten kurzzeitig den mager beleuchteten Raum. Um sie herum waren noch mindestens sechs weitere Kollegen bei der Spurensuche. Sie maßen Abstände, zeichneten Details auf, suchten auf den Knien jeden Quadratzentimeter ab und veränderten laufend die Einstellung der Fotoapparate.
„Hallo Nettgen, gut, dass du kommst!“, rief einer der Kollegen, der in einem weißen Schutzanzug steckte. Als er zur Seite trat, erblickte Nettgen den Leichnam. Er lag auf dem Rücken, tot wie ein Sargnagel . Nettgen schien den Blick des toten Mannes auf sich zu spüren. Seine regungslosen und weit aufgerissenen Augen schienen ihn
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