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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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hierhergehören, als wäre man ihm hier nicht mit Gelassenheit, ja mit Zuneigung begegnet – und wenn er nicht hierhergehörte, wohin gehörte er denn dann? »Victor!« Er erhob die Stimme. »Victor, sieh mich an!«
    Keine Reaktion. Das Gesicht des Jungen war wie ein ins Wasser getriebener Keil, sein Haar war ein Vorhang, seine Augen starrten ins Nichts.
    »Victor! Victor!« Itard trat näher, beugte sich über die Wanne und stützte sich mit beiden Händen auf die Ränder. Er war plötzlich wütend, trotz der Gefühle, die er eben noch empfunden hatte, als Monsieur Guérin mit der Nachricht gekommen war. Was hatte sich verändert? Was stimmte nicht? Er wollte doch nur zur Kenntnis genommen werden. War das denn zuviel verlangt? »Victor!«
    Wegen des Badewassers und des aufsteigenden Dampfs war er sich nicht sicher, doch die Augenlider des Jungen schienen nass zu sein. Weinte er? War auch er zur Rührung fähig?
    Madame Guérins Stimme drang durch die Stille an sein Ohr. »Bitte, Monsieur le Docteur – sehen Sie nicht, dass er völlig durcheinander ist?«

    Es war vielleicht pervers, ein Ausdruck des Übereifers, der diese Krise erst herbeigeführt hatte, aber gleich am nächsten Morgen nahm Itard die Arbeit an Victor wieder auf und verdoppelte seine Bemühungen. Bei diesem Bad warein elementares Prinzip wiederhergestellt, war die Ordnung der Dinge bestätigt worden: Er war der Vater und Victor der Sohn, und Itard war entschlossen, diesen Umstand auszunutzen, solange er konnte. Er hatte gesehen, wie segensreich sich seine und Sicards Methoden auf die Entwicklung Gaspards und einiger anderer Taubstummer auswirkten, und so nahm er die Übungen mit einfachen Objekten und ihren auf Pappe geschriebenen Bezeichnungen wieder auf. Anfangs war Victor, wie zuvor, nicht imstande, die Verbindung herzustellen, doch im Verlauf der Monate fand eine Art intellektueller Umformung statt, so dass Victor schließlich an die dreißig Wörter beherrschte – nicht mündlich, aber schriftlich. Itard hielt eine Karte hoch, auf der BOUTEILLE oder LIVRE stand, und Victor, der das Ganze als Spiel auffasste, rannte hinaus und hinauf in sein Zimmer und holte den gewünschten Gegenstand. Es war ein Durchbruch. Und nach endlosen Wiederholungen mit verschiedenen Flaschen und verschiedenen Büchern, Papieren, Schreibgeräten und Schuhen vermochte er sogar zu verallgemeinern und verstand, dass dieses geschriebene Wort sich nicht nur auf einen spezifischen Gegenstand bezog, sondern auf eine ganze Klasse ähnlicher Gegenstände. Jetzt, fand Itard, war er bereit für die letzte Phase, für den Sprung vom geschriebenen zum gesprochenen Wort, das all seine Fähigkeiten erschließen und ihn zum erstenmal in seinem Leben zu einem vollwertigen Menschen machen würde.
    Ein Jahr – ein ganzes Jahr mit dahinjagenden Wolken, Regenschauern, Schnee, knospenden Blüten, ausschlagenden Bäumen – übte Itard mit Victor, wie er mit Gaspard geübt hatte: Er saß ihm gegenüber und ließ die Craniofacialmuskeln ihr ganzes mimisches Repertoire durchspielen,steckte seine Finger in den Mund des Jungen, um die Zunge in die korrekte Stellung zu bringen, und ließ umgekehrt den Jungen in seinem – Itards – Mund ertasten, welche Bewegungen Sprache erzeugten. Es ging nur sehr langsam voran. »Hol mir le livre , Victor«, sagte Itard, und Victor starrte ihn einfach nur an. Itard stand auf, ging zum anderen Ende des Raums, nahm das Buch in die Hand und zeigte gleichzeitig auf Victor. »Sag es, Victor. Sag, dass du das Buch willst. Das Buch, Victor. Das Buch.«
    Wann immer eine Brise die Vorhänge bauschte oder sich über dem Institut Wolken zusammenballten oder Blitze vom Himmel zuckten, trat Victor ans Fenster, ganz gleich, was sie gerade taten oder in welchem entscheidenden Stadium ihre Übungsstunde war, und dann war er taub für alle Ermahnungen. Er hatte zugenommen. Er war sieben Zentimeter gewachsen. Er war stärker geworden. Er wirkte mehr und mehr wie ein Mann – auffallend klein zwar und mit den noch nicht voll ausgebildeten Gesichtszügen eines Jungen, aber dennoch war er eindeutig ein junger Mann. Das bewiesen auch die Haare, die ihm unter den Armen und rings um sein Geschlechtsorgan wuchsen und auch die schwache Spur eines Schnurrbarts auf seiner Oberlippe. In dieser Zeit war er leicht abgelenkt und manchmal regelrecht geistesabwesend – dann starrte er vor sich hin, summte und wiegte sich vor und zurück wie damals, als er aus dem Wald gekommen war. Immer

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