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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gegen das Gefühl der Verlassenheit anzukämpfen – er würde wiederauftauchen, das wusste sie, und wenn nicht, so hatte sie immer noch ihre Töchter und ihren Mann und ihren Kater, und überhaupt war er doch bloß ein armer, verzweifelter wilder Junge, der keine zwei Wörter sprechen konnte, selbst wenn sein Leben davon abhing. Sie hob den Blick, um einem lebhaft ausschreitenden Mann mit einem Spazierstöckchen auszuweichen – und sah Victor in die Augen. Er war auf der anderen Straßenseite, Wagen rasselten vorbei, die runden Schultern und die Köpfe der Passanten schoben sich zwischen sie und ihn, als hätte sich ganz Paris verschworen, ihre Mühen zu vereiteln und ihn ihr wieder wegzunehmen, und als sieüber die Straße zu ihm eilte, sah sie weder links noch rechts und hörte auch nicht die Flüche des grobschlächtigen Mannes auf seinem Wagen und das Stottern der Hufe, denn das alles war nebensächlich – wichtig war einzig und allein Victor.
    Einen ungewissen Augenblick lang reagierte er nicht. Er stand einfach da, den Rücken an die hinter ihm aufragende Mauer gepresst. Sein Gesicht war klein und verängstigt, und seine Augen blickten ins Leere. Sie sah, was er durchgemacht haben musste, sah das schlammverkrustete Haar, die zerrissene Kleidung, das Blut an seinem Hosenboden. »Victor!« rief sie scharf und zornig. Was fiel ihm eigentlich ein? Was tat er hier? »Victor!«
    Es war, als wären diese beiden Silben fest und greifbar geworden, als wären sie an einem Stein befestigt, der vom Himmel stürzte und ihn niederstreckte. Er fiel auf die Knie und schluchzte laut. Er versuchte zu sprechen, ihren Namen zu sagen, doch da war nichts. »Uh-uh-uh«, stieß er hervor, heiser und von Gefühlen übermannt, »uh-uh-uh«, und er kroch die letzten Meter wie ein Büßer, packte ihre Röcke und ließ nicht mehr los.

    Während sich auf der Straße diese Szene abspielte, war Itard in seiner Wohnung und arbeitete mit einem stummen Jungen, der weitgehend gehörlos war, jedoch noch über ein gewisses Maß an Hörfähigkeit verfügte. Sein Name war Gaspard – er war so alt wie Victor, blond und wohlgestaltet, lächelte viel und besaß ein fügsames Wesen –, und seit er im vergangenen Jahr aus einem abgelegenen Dorf in der Bretagne ins Institut gekommen war, hatte er große Fortschritte gemacht. Er konnte sich mittels Gebärden gut verständigen und hatte die Übungen, bei denen er lernte, einObjekt mit einer Abbildung des Objekts und dann mit dem entsprechenden geschriebenen Wort zu assoziieren, schnell gemeistert. Seit einem Monat hatte Itard mit ihm geübt, den Klang dieser Wörter mit Gaumen, Lippen, Zunge und Zähnen zu erzeugen, und der Junge begann, einzelne Töne auf verständliche Weise aneinanderzufügen, etwas, wozu Victor nie imstande gewesen war, obwohl zwei Jahre vergangen waren, seit er ins Institut gekommen war – und dabei besaß er den Vorteil, über ein normales Gehör zu verfügen. Das war ein Rätsel, denn Itard weigerte sich zu glauben, dass Victor einen mentalen Defekt hatte – er hatte zuviel Zeit mit ihm verbracht, hatte zu tief in seine Augen gesehen. Jedenfalls übte er gerade mit Gaspard und dachte dabei an Victor, der sich verirrt hatte und irgendwo dort draußen durch die Stadt lief, gemeinen Verbrechern und Sodomisten ausgeliefert, als Monsieur Guérin an die Tür klopfte und berichtete, er sei gefunden worden.
    Itard sprang auf und stieß dabei vor lauter Aufregung die Lampe um, und wenn Gaspard nicht schnelle Füße und eine kurze Reaktionszeit gehabt hätte, wäre das Zimmer vielleicht in Flammen aufgegangen. »Wo?« wollte Itard wissen. »Wo ist er?«
    »Bei Madame.«
    Sekunden später war Itard, eingehüllt in den Geruch von Lampenöl, unten, in der Wohnung der Guérins, wo Victor steif in der Badewanne saß, während Madame Guérin ihn mit Seife und einem Waschlappen abrieb. Victor sah ihn nicht an. Er hob nicht einmal den Blick. »Das arme Kind«, sagte Madame Guérin, wandte den Kopf und sah zu ihm auf. »Er ist von irgendeinem Tier gebissen worden und hat im Dreck gelegen.« Dampf stieg vom Badewasser auf. Auf dem Herd standen zwei riesige Töpfe mit Wasser.
    »Victor, du bist sehr, sehr böse gewesen«, sagte Itard und legte all seine Gefühle in die Intonation, mit Ausnahme der Erleichterung, denn er musste jetzt streng sein, er musste sein wie sein eigener Vater, der nie einem Kind seinen Willen gelassen hätte. Besonders diesem Kind nicht. Davonzulaufen, als würde er nicht

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