Das wilde Kind
öfter schien er erregt, und während sein Körper fortfuhr, sich zu verändern, wurde Victor mehr und mehr zu einem Problem.
Außer dem Zwischenfall mit dem taubstummen Mädchen gab es noch andere Anlässe zur Besorgnis. Während Itard sich nicht vorstellen konnte, dass Victor jemandem –ganz gleich, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts – ernsthaft Schaden zufügen könnte, verletzte der Junge ständig die Grenzen des Anstands, so dass Sicard ihn zunehmend als schlechten Einfluss auf die anderen Kinder betrachtete, und das aus gutem Grund. Er besaß nicht mehr Schamgefühl als ein Schneehase oder ein afrikanischer Affe, der im Einklang mit sich und der Natur lebte, und wenn ihm danach war, holte er seinen Penis hervor und masturbierte, ohne Rücksicht auf die Situation oder die Gesellschaft, in der er sich befand. (Glücklicherweise wusste der Abbé zu diesem Zeitpunkt nichts davon.) Er rieb sich auf unanständige Weise an anderen Menschen, Männern und Frauen gleichermaßen. Immer häufiger entledigte er sich nach dem Erwachen seiner Hose und manchmal auch seiner Unterwäsche. Ermahnungen oder Strafen vermochten in ihm kein Gefühl für Scham oder auch nur Schicklichkeit zu erzeugen.
Einmal, als Madame Guérins drei Töchter da waren und alle – die Guérins, Itard und Victor – beim Observatorium im Jardin du Luxembourg ein Picknick veranstalteten, unternahm Victor einen unbeholfenen Annäherungsversuch bei Julie, diejenige von Madame Guérins Töchtern, die er am liebsten mochte. Er kannte sie gut, weil sie ihre Mutter oft besuchte – »Lie! Lie!« rief er, wenn sie ins Zimmer trat –, und sie schien ihn ebenfalls zu mögen, nicht nur, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, sondern auch, weil sie gutherzig und mitfühlend war. An diesem Tag jedoch hatten sie kaum die Decke ausgebreitet und den Korb ausgepackt, als Victor den Löwenanteil der belegten Brote nahm und damit zu einer Baumgruppe rannte, um sich dort zu verstecken. Das tat er meistens – trotz all der Übungen und der Hinführung zu einer menschlichen Existenz zeigte erwenig Sinn für andere, wenig Mitleid oder Kameradschaft oder Großzügigkeit –, doch diesmal geschah etwas Besonderes. Einige Augenblicke später schlich er, das Gesicht mit Mayonnaise und Fischpaste verschmiert, wieder zu der Gruppe zurück und begann, der einen und dann einer anderen Tochter über das Haar zu streichen, wobei seine Hände deutlich zitterten; er legte jeder seinen Kopf in den Schoß, stand schließlich auf und fasste sie mit festem und doch zärtlichem Griff am Nacken. Als sie ihn ignorierten, schien er gekränkt und ging unbeholfen einige Schritte beiseite. Die letzte, Julie, war toleranter als ihre Schwestern. Es entwickelte sich dasselbe Szenario, doch dann tat der Junge einen Schritt, den Itard ihm nicht zugetraut hätte: Er nahm Julie an der Hand, zog sie hoch und führte sie zu der Baumgruppe, wo er die belegten Brote versteckt hatte.
Die beiden anderen Schwestern wechselten einen Blick und machten eine so anzügliche Bemerkung, wie sie es sich im Beisein ihrer Eltern erlauben durften, und Madame Guérin stieß ein kleines verlegenes Lachen aus, während ihr alter, stoischer Mann, dessen beachtliche Nase von der Sonne gerötet war, seine ganze Aufmerksamkeit den belegten Broten widmete. »Unser Wilder ist, wie es scheint, durch weiblichen Charme zivilisiert worden«, bemerkte Itard. »Und wer könnte es ihm verdenken?« Alle außer Monsieur Guérin sahen zu der Baumgruppe und dem, was sich dort im hellen Sonnenlicht tat. Interessiert und mit hochgezogenen Augenbrauen, um den anderen zu signalisieren, er sei amüsiert und keineswegs besorgt – was er, angesichts von Victors rudimentärem Begriff von Anstand, natürlich sehr wohl war –, machte Itard sich auf den Weg, um nachzusehen.
Mit blassem, ausdruckslosem Gesicht knetete Victor sanft Julies Knie, als wären sie Kugeln aus Wachs, denen er eine ganz andere Form zu geben versuchte, während er gleichzeitig auf sein Versteck zeigte. Die Brote – es waren vier oder fünf, allesamt angebissen – lagen auf einem Bett aus frisch gepflückten Blättern. Julie bemühte sich, verwundert auszusehen, obgleich ihr die Situation offensichtlich unangenehm war, und nachdem sie Victor ein paar Minuten über ihr Haar streichen und ihre Knie hatte massieren lassen, lächelte sie heiter und sagte: »Das ist jetzt genug, Victor. Ich möchte zurück zu maman gehen.«
Victor sah aus wie am Boden zerstört,
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