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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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als Julie sich mit einem duftenden Wirbel von Röcken erhob und ihre Schritte zurück zu den anderen lenkte. »Lie!« rief er kläglich und klopfte auf das zusammengedrückte Gras, wo sie gesessen hatte. »Lie! Lie!« Und dann bot er ihr in einer Art Verzweiflung und als überwältigenden Ausdruck seiner Liebe die Überreste eines halbgegessenen Brotes dar.
    Natürlich war Itard von dieser Szene berührt – schließlich war auch er nur ein Mensch. Aber er wusste nicht, wie er seinem Schützling einen Begriff von Sitte oder Moral vermitteln sollte, wenn es ihm nicht gelang, Wörter in seinem Kopf zu verankern: Victor konnte seine Wünsche nicht formulieren, geschweige denn ausdrücken, und jeder Tag mit seinen Übungen schien ihn weiter von diesem Ziel zu entfernen. Sechs Monate vergingen, ein Jahr. Victor begann sich auf eine Weise zu sträuben, die an frühere Zeiten erinnerte, und ganz gleich, wie oft sie die Gesichts- und Zungenmuskeln übten und immer wieder dieselben Wörter sagten – Victor konnte sie einfach nicht aussprechen. Selbst Itard, ein Mann mit einer Engelsgeduld, beganndiese Übungsstunden zu fürchten, und schließlich musste er der Wahrheit ins Auge sehen: Victor regredierte. Gaspard kam und ging; er hatte eine Lehre bei einem Schuhmacher begonnen und konnte lesen, schreiben und einigermaßen flüssig sprechen, und andere nahmen seinen Platz ein, lernten und entwickelten sich und gingen dann hinaus in die Welt. Sicard wurde ungeduldig, ebenso der Innenminister, der die Mittel für Victors Pflege und Ausbildung bewilligt hatte und für diese öffentliche Investition greifbare Ergebnisse erwartete. Doch es gab eine Blockade, ein Hindernis, das Victor einfach nicht überwinden konnte, und Itard musste widerstrebend eingestehen, dass dies die unumkehrbare Folge jener frühen Jahre der Entfremdung von allem Menschlichen war, der Zeit, in der er umhergeschweift war, ohne je eine menschliche Stimme zu hören. Er begann die Hoffnung sinken zu lassen.
    Dann erschien eines Tages, eines schönen Frühlingstages, an dem der warme Südwind einen Duft von Erneuerung mit sich trug, Sicard in der Tür zur Wohnung des Doktors. Itard hatte einen Schüler erwartet und die Tür angelehnt gelassen. Er sah überrascht auf: Seit er am Institut war, hatte ihn der Abbé noch nie in seiner Wohnung aufgesucht, doch da stand er nun in seiner Soutane, mit verkniffenem Gesicht und missbilligend gespitztem Mund. Kein Zweifel – es gab Ärger.
    »Dieser Wilde«, stieß Sicard aus. Er war so erregt, dass er die Wörter kaum herausbrachte.
    Itard sprang auf und griff nach dem Krug und dem Glas auf dem Schreibtisch. »Abbé«, sagte er und schenkte das Glas ein, »möchten Sie ein Glas Wasser? Kann ich –«
    Sicard war eingetreten und wischte mit einer Handflächeüber die andere. Seine Robe war in heftiger Bewegung. »Dieses Tier. Dieser … Bei Gott, er ist unheilbar. Dieser Idiot. Dieser Selbstbeflecker, dieser, dieser …«
    Itard sah ihn bestürzt an. »Was hat er getan?«
    »Was er getan hat? Er hat sich vor den versammelten Schülerinnen und Schwester Jean-Baptiste entblößt. Und … und er hat sich berührt, als wäre er einer der Idioten in Bicêtre – wo er auch hingehört. Entweder dorthin oder ins Gefängnis.« Er funkelte Itard an. Sein Atem – das Ein- und Ausströmen von Luft durch die Nase – klang brausend wie Sturm. Die Augen sahen aus, als wollten sie sich im nächsten Moment auflösen.
    »Aber wir können ihn doch nicht einfach aufgeben.«
    »Ich werde nicht zulassen, dass er diese Institution beschmutzt, dass er die unschuldigen Gemüter dieser Kinder verdirbt – unserer Mündel, Doktor, unserer Mündel. Und schlimmer noch: Was, wenn er seinen Trieben nachgibt? Was dann?«
    Durch das offene Fenster hörte man die Schreie spielender Kinder, das Aufprallen eines Balls, den Zusammenstoß von Körpern. Gelächter. Rufe. Spielende Kinder, das war alles. Nur das Geschrei spielender Kinder, und doch deprimierte es ihn. Victor spielte nicht. Victor hatte nie gespielt. Und nun war er kein Kind mehr.
    Itard hatte alles versucht, er hatte dafür gesorgt, dass der Junge kein Fleisch oder andere Speisen bekam, die gesteigerte Erregung hervorrufen konnten, er hatte ihn wieder lange baden lassen, in der Hoffnung, das werde ihn beruhigen, und schließlich hatte er ihn, wenn er sich allzusehr erregte, zur Ader gelassen, bis die Anspannung nachließ. Nur dies schien zu wirken, und dann auch nur für einige Stunden. Mit

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