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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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in jenen ersten Monaten, sein erstes Wort, das Erkennen von Bezeichnungen, der große Sprung, den er getan hatte, als er geschriebene Wörter erkannt hatte –, stieg vor seinem geistigen Auge auf, verflüchtigte sich und wurde zu Verzweiflung. Er brauchte mehrere Tage und viele Kannen Kaffee, bis er zu begreifen begann, dass selbst in seinem Scheitern ein gewisser Erfolg gelegen hatte. Man dürfe Victor nicht mit anderen Kindern vergleichen, schrieb er, sondern müsse seinen individuellen Werdegang betrachten: Als er aus dem Wald gekommen sei, habe er so wenige Empfindungen gehabt wie eine Pflanze und sich von einer solchen nur dadurch unterschieden, dass er Laute äußern und sich habe bewegen können. Damals sei er der Wilde von Aveyron gewesen, jetzt dagegen sei er Victor, ein junger Mann, der trotz seiner Beschränkungen gelernt habe, für die Gesellschaft von Nutzen zu sein – jedenfalls für die Gesellschaft seiner Vormünder, Monsieur und Madame Guérin. Er sei nicht nur imstande, alle möglichen Hausarbeiten zu erledigen – beispielsweise den Tisch zu decken oder Holz zu hacken –, sondern tue dies auch mit Eifer, und im Verlauf seiner Erziehung habe er auch ein gewisses moralisches Empfinden entwickelt.
    Ein gewisses Empfinden. Er besaß keinerlei Schamgefühl, aber das hatten auch Adam und Eva nicht besessen, bevor die Schlange in den Garten Eden gekommen war, und wie hätte man ihm das vorwerfen können? Die vielleicht schmerzlichsten Lektionen, die er Victor hatte erteilenmüssen, waren die gewesen, welche darauf abgezielt hatten, ihn über sich selbst hinauswachsen zu lassen, ihm vor Augen zu führen, dass auch andere Menschen Gefühle und Bedürfnisse hatten, und ihm Mitleid und die natürliche Weiterführung davon, die Barmherzigkeit, nahezubringen. Anfangs, als Victor die Gewohnheit hatte, Essen zu stehlen und in seinem Zimmer zu horten, versuchte Itard, ihn den kategorischen Imperativ auf die direkteste Art, die ihm einfiel, zu lehren: Jedesmal, wenn Victor einen Leckerbissen von Itards Teller oder dem des alten Monsieur Guérin stahl, wartete Itard auf eine Gelegenheit, Victor etwas wegzunehmen, ja er ging sogar während Victors Abwesenheit in dessen Zimmer und entfernte seinen Vorrat an Kartoffeln, Äpfeln und angebissenen Brotrinden. Zunächst reagierte Victor heftig. Sobald er auf seinen Teller sah und feststellte, dass seine Bratkartoffeln oder Saubohnen fort waren und auf dem Teller seines Lehrers lagen, bekam er einen Anfall und wälzte sich, schreiend vor Wut und Schmerz, auf dem Boden. Madame Guérin verzog das Gesicht. Itard blieb unnachgiebig. Nach und nach änderte Victor sein Verhalten – er stahl jetzt nicht mehr Essen vom Teller eines anderen oder irgendwelche Gegenstände, die ihm gefielen, eine Schuhschnalle etwa oder die durchsichtige Glaskugel, die Itard als Briefbeschwerer benutzte –, doch der Doktor war sich nie sicher, ob er ein rudimentäres Rechtsempfinden entwickelt hatte oder wie ein gewöhnlicher Krimineller lediglich die Strafe fürchtete.
    Das war es, was Itard im dritten Jahr der Erziehung des Jungen dazu brachte, die schwierigste Lektion anzugehen. Es war an einem Tag, an dem sie stundenlang mit geometrischen Figuren geübt hatten. Victor war besonders willig gewesen und erwartete die üblichen Belobigungen undBelohnungen, die Itard ihm am Ende einer anstrengenden Stunde gab. Die Sonne ging unter. Draußen steigerte sich der Lärm der taubstummen Kinder, wie stets vor dem Abendessen. Der Geruch von gekochtem Fleisch hing in der Luft. Schon seit mehreren Minuten sah Victor in Erwartung des Endes der Stunde und seiner Belohnung zu Itard auf, doch anstatt einer Belohnung bekam er eine Strafe. Itard erhob die Stimme und sagte Victor, er sei böse gewesen, sehr böse – er sei ungeschickt und dumm, und man könne unmöglich mit ihm arbeiten. So ging es noch eine Zeitlang weiter, dann stand er abrupt auf, packte den Jungen am Arm und zog ihn zu der Kammer, in die er am Anfang seiner Erziehung gesperrt worden war, wenn er sich besonders halsstarrig gezeigt hatte.
    Victor sah ihn verwirrt an. Er konnte sich nicht erklären, was er falsch gemacht hatte oder warum das Gesicht seines Lehrers so erregt und seine Stimme so bedrohlich war. Zunächst ließ er sich leise wimmernd zu der Tür der Kammer führen, doch dann, als Itard ihn hineinschieben wollte, setzte er sich wütend zur Wehr, mit gerötetem Gesicht und blitzenden Augen, und es gab ein langes Gerangel. Victor war

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