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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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inzwischen größer und stärker geworden, aber gegen einen erwachsenen Mann konnte er nichts ausrichten, und so schob Itard den flehentlich schreienden Jungen schließlich in die Kammer. Es gelang ihm allerdings nicht, die Tür zu schließen. Victor ließ es nicht zu. Er stemmte die Füße gegen die Wand, lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, und als er merkte, dass er den Kampf verlor, beugte er sich plötzlich vor und biss Itard in die Hand, bevor die Tür mit einem Knall zuschlug und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Für den Doktor war es ein sehr emotionaler Augenblick. Seine Handschmerzte – er würde die Wunde verbinden müssen –, und der Junge würde ihn nun wochenlang hassen, und dennoch jubilierte er: Victor hatte einen Sinn für Gerechtigkeit entwickelt. Die Strafe war unverdient, und er hatte reagiert, wie jeder normale Mensch reagiert hätte. Vielleicht war es nur ein kleiner Sieg – hätte der Wilde von Aveyron, den man von seinem Baum geholt hatte, dieses Konzept begriffen? –, doch es war ein Beweis für Victors Menschsein, und Itard schilderte die Szene in seinem Bericht. Ein solches Kind, ein solcher junger Mann, schrieb er in seiner Zusammenfassung, verdiene die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und die fortgesetzte Unterstützung und Fürsorge des Staates.
    Der Bericht umfasste fünfzig Seiten. Der Innenminister ließ ihn auf Regierungskosten drucken, Sicard ergänzte ihn um einen Brief, in dem er Itards Bemühungen pries, und Itard kam in den Genuss der Aufmerksamkeit und Anerkennung, nach denen er sich sehnte. Doch das Experiment war offiziell beendet, und Victors Tage im Institut waren gezählt. Sicard trat dafür ein, dass der Junge entfernt werden müsse, und schrieb an den Innenminister, trotz Itards heldenhafter Anstrengungen verweile Victor in einem Zustand unheilbaren Schwachsinns, und des weiteren stelle er eine wachsende Gefahr für die anderen Schüler dar. Es dauerte einige Zeit – Monate und dann Jahre, in denen sich nichts tat –, doch schließlich erklärte sich die Regierung bereit, Madame Guérin eine lebenslange Rente in Höhe von jährlich hundertfünfzig Francs für Victors Pflege und Unterhalt zu zahlen. Zusätzlich erhielt sie fünfhundert Francs, damit sie mit ihrem Mann und dem Jungen ein kleines Haus unweit des Instituts, im Impasse des Feuillantines, beziehen konnte.

    Sofern es Victor etwas ausmachte, das einzige Heim zu verlassen, das er je gekannt hatte, das Zimmer, das er all die Jahre bewohnt, den Park, den er durchstreift hatte, bis er jeden Zweig und jedes Blatt, jede Furche und jeden Stein kannte, so war ihm das nicht anzumerken. Er war beim Transport der Möbel eine große Hilfe, und die neue Umgebung schien ihn zu stimulieren, so dass er sich auf alle viere niederließ, an den Fußleisten schnupperte und jedes Zimmer eingehend untersuchte. Er war fasziniert, die vertrauten Gegenstände – sein Bett und die Tagesdecke, die Töpfe und Pfannen, die beiden identischen Sessel, die die Guérins gern vor den Kamin zogen – in dieser neuen Wohnung zu sehen. Der Hof war nicht sonderlich groß, aber frei von Taubstummen; dort konnte er den Himmel betrachten, mit Axt und Säge Brennholz für Madame Guérins Ofen machen und neben Sultan, der mit den Jahren noch fetter und schwerfälliger geworden war, in der Sonne liegen. Und jeden Tag unternahm Madame Guérin, wie sie es seit Jahren getan hatte, mit ihm einen Spaziergang im Park.
    Und Itard? Er ließ es sich, zumindest anfangs, angelegen sein, Victor zu besuchen, und beim Klang seiner Stimme kam der Junge gelaufen, umarmte ihn und nahm die Belohnung entgegen, die der Doktor stets bereithielt: einen Beutel Nüsse, eine Orange. Victor war jetzt in den Zwanzigern und kleiner als der Durchschnitt – so klein wie ein Kind –, doch sein Gesicht war breiter geworden, und er hatte einen schütteren Bart, der die Wangen bedeckte und bis zu der Narbe an seinem Hals reichte. Bei den Spaziergängen trottete er noch immer auf seine unverkennbare Art, doch im Haus und auf dem Hof schlurfte er umher wie ein alter Mann. Itard betrachtete die Guérinsals alte Freunde, ja beinahe als Waffenbrüder, denn immerhin hatten sie ja denselben Kampf gekämpft, und Madame Guérin bestand darauf, für ihn zu kochen, wenn er sie besuchte, doch zwischen ihm und seinem früheren Schüler war jetzt eine Befangenheit, und die körperliche Nähe ihrer gemeinsamen Jahre war auf die Umarmung bei der Begrüßung reduziert.

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