Das wilde Leben
verloren.
Der Regisseur und ich beschließen, daß wir einen Film darüber drehen müssen, wie unser Held in dieser nun wirk
lich sonderbaren Stadt lebt. Er ist aus einer armen Familie, eine Waise.
Die erste Szene filmen wir im Park des Hauses der Offiziere. Der Major ist wie immer bei uns. Der Major ist ein Menschenfreund, scherzt die Kamerafrau Ira. Wir machen nicht einmal den Versuch, zu erfahren, wie er heißt. Ich versuche es mit einem Ablenkungsmanöver. Mit einer weit ausholenden Geste zeige ich auf die Tanzfläche:
»Hier spielte das Blasorchester … Hier fanden die Tanznachmittage statt, bei denen meine Eltern sich kennenlernten.«
Der Major schaut auf die Uhr und geht zu einer Telefonzelle.
In dem Augenblick schickt der Regisseur unbemerkt Lescha, den Narren, aus, der mit gewohnter Findigkeit beginnt, im Park die leeren Flaschen einzusammeln, die der Regisseur vor der Aufnahme dort versteckt hat. Später wollen wir filmen, wie er sie verkauft und sich eine Flasche Milch kauft. Ira schwenkt die Kamera mit einer verstohlenen Bewegung von mir auf Leschka.
»Das ist die Security bei uns!« sagt sie mit einem Blick auf den Major. »Der kriegt aber auch gar nichts mit!«
Wir gehen über einen Acker, wo die Soldaten nebenher Landwirtschaft betreiben, dazu gehört auch eine Schweinezucht. Der Regisseur sucht Natur. Er braucht eine Szene, in der Lescha einen Pfad entlanggeht, mit nichts als Himmel im Hintergrund. Ich zeige auf den Schlangenhügel.
»Warum Schlangenhügel?« fragt er. »Schon wieder eine Legende?«
»Nein. Bloß wenn der Frühling kommt, kriechen die
Schlangen alle auf den Südhang, um sich dort nach dem Winterschlaf aufzuwärmen«, erzähle ich. Ich erinnere mich an jenen Frühlingstag in meiner Kindheit, als ich hierher kam, um Schneeglöckchen zu pflücken, und drei Schlangen sah: Die erste war riesig und lag quer über dem Weg, in ihrer ganzen monströsen Schönheit; sie schaute mich mit bösen Menschenaugen an, die mich völlig durchdrangen. Die zweite war kleiner, ich traf sie eine Stunde später, als ich dabei war, Blumen zu pflücken, sie lag da und sonnte sich. Als ich sie fotografieren wollte, reagierte sie unerwartet heftig, ringelte sich zusammen und schaute mir in die Augen. Ihre Pose für Gefahr, wie ich später erfuhr. Sie hypnotisierte mich und nagelte mich fest, bis sie davongeschlüpft war.
Die dritte war eine kleine graue Schlange, ich wäre fast auf sie getreten und zwar ausgerechnet in dem Moment, als mich Sonne, Frühling und Frühlingsdüfte besonders beglückten, und ich erschrak, daß ausgerechnet in einem Augenblick des Glücks die kleine graue Schlange herangekrochen war.
»Brrrr …«, der Regisseur schüttelt sich. »Na gut, versuchen wir es. Ich will doch hoffen, daß die Schlangen im Spätherbst schon schlafen gegangen sind.«
Vor dem Hintergrund des weiten, leeren Himmels geht Lescha über den Hügel und zieht ein Fahrradgestell hinter sich her.
»Heute ist ein Glückstag. Wir haben eine Szene gefilmt, in der Leschka mit seinem Vater auf der Treppe vor dem Haus sitzt. Der Vater fragte Leschka: Was ist da oben am Himmel, Leschka?«
»Was is da?«
»Sterne. Sprich mir nach: Sterne.«
»Ja. Sch-erne«, sagt Lescha.
»Die Sonne.«
»Son-ne …«
»Der Mond.«
»Mo-od …«
»Und was sonst noch, Leschka?« fragt der Vater, und sein alkoholerweichtes Hirn erinnert sich nicht mehr daran, was für Planeten am Himmel stehen, Mars oder Venus. »Was ist sonst noch da?«
Leschka wird still, sein Gesicht verwandelt sich, und plötzlich sagt er deutlich:
»Gott …«
Der Vater sieht Leschka entsetzt an, dann zum Himmel hinauf.
Ira filmt. Wir haben Angst, sie zu stören. Sie hat die Szene aufgenommen. Der Regisseur und ich umarmen uns.
»Das wird ein Film!« sagt er glücklich.
Der Regisseur und ich gehen ins Kinoarchiv. Der Techniker, der dort arbeitet, ist mein ehemaliger Nachbar in unserer Straße, Schurik Zaplin. Als ich klein war, vergötterte ich ihn. Er behandelte mich wie eine kleine Schwester. Er war acht Jahre älter als ich. Im Scherz wurden wir einander versprochen. Als ich zehn war, ging er in die Armee. Und ich fühlte mich als seine Braut und wartete und schrieb ihm Briefe. Als er aus der Armee zurückkam, war er verheiratet, er hatte mich einfach vergessen. Aber ich blieb trotzdem seine verschmähte Braut.
Schurik führt uns das ganze Kinoarchiv vor, von mor
gens bis abends. Der erste Sputnik. Die Hunde Belka und Strelka im
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