Das Winterhaus
unaufhörlich und wußte tagelang nicht, wo ich war oder was vorging. Nach ungefähr zwei Wochen, als es mir wieder etwas besserging, erfuhr ich, daß das Kind lebte und daß sie ihm eine Amme gesucht hatten. Sie brachten sie mir. Ich weiß noch – ich habe sie nur einmal kurz angesehen, dann habe ich geschrien, sie sollen sie wegbringen. Wieder Vernon, dachte ich – er verhöhnte mich. Er hatte gewartet, bis ich geglaubt hatte, frei zu sein, und dann hatte er mir ein kleines verkrüppeltes Ungeheuer beschert.«
Maia holte tief Atem. »Ich dachte, ich könnte sie im Kloster lassen. Ich dachte, da gäbe es ein Waisenhaus oder so was. Aber sie wollten das kranke Kind einer Ausländerin nicht aufnehmen – oder vielleicht konnte ich ihnen auch nicht verständlich machen, was ich von ihnen wollte.«
»Da hast du sie nach England mitgenommen?«
»Ja. Ich bin mit dem Kind und der Amme im Wagen wieder losgefahren. Kannst du dir das vorstellen, Robin, wie ich mit einem schreienden Säugling – sie hat wirklich die meiste Zeit geschrien und einem Bauernmädchen, das kein Wort Englisch verstand, durch Spanien gebraust bin?«
Robin lächelte. »Ein bißchen schwierig.«
»An die Fahrt möchte ich mich am liebsten gar nicht erinnern. Als ich an der französischen Küste war, habe ich das Mädchen bezahlt und die Fähre über den Kanal genommen. Ich hatte in Boulogne Fläschchen und einige andere Dinge besorgt, und ich nahm auf dem Boot eine Kabine für mich. Ich hatte keine Ahnung von Säuglingspflege. Ich mußte mir von einer der Stewardessen zeigen lassen, wie man eine Flasche macht und wie man ein Kind wickelt. Aber das Merkwürdige war –«, Maia runzelte leicht die Brauen, »– daß sie sich auf dem Schiff wohl zu fühlen schien. Sie hat fast die ganze Überfahrt geschlafen. Vielleicht hat das Schaukeln sie eingewiegt. Und wenn sie wach war, hat sie nicht geweint. Sie hat mich angelächelt. Ich hatte sie vorher noch nie lächeln sehen. Ich dachte, sie könnte es überhaupt nicht.«
»Es dauert ein paar Wochen, ehe Säuglinge lächeln.« Aus der Küche konnte Robin das Lachen des kleinen Mädchens hören. »Und wenn sie nach der Geburt krank war – und eine Frühgeburt dazu –, dann hat sie wahrscheinlich noch ein bißchen länger gebraucht.«
»Sobald ich wieder in England war«, fuhr Maia fort, »habe ich mich in Kent nach einem Heim für sie umgesehen. Ich habe ziemlich problemlos etwas gefunden – ein Waisenhaus in der Nähe von Maidstone. Dann bin ich noch einmal nach Frankreich gefahren, um mich zu erholen und mir zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich dachte, ich wäre frei, verstehst du. Ich wußte, daß ich das Kaufhaus leiten wollte – das wußte ich schon lange. Ich plante genau, was ich tun würde, und bin dann im September nach England zurückgekehrt.«
»Und Maria?«
Es war dunkel geworden im Zimmer. Schatten lagen auf Maias Gesicht. »Ich bin nicht gleich in das Waisenhaus gefahren. Ich habe damals wahnsinnig viel für das Kaufhaus gearbeitet – und, um ehrlich zu sein, ich habe immer noch versucht, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Aber dann war ich eines Tages bei einem Lieferanten in Kent und bin auf dem Rückweg im Waisenhaus vorbeigefahren. Sie führten mich in das Zimmer, in dem sie untergebracht war. Es war grauenvoll, Robin, du kannst es dir nicht vorstellen. Sie hatten alle behinderten Kinder zusammengelegt. Reihen von eisernen Betten. Keine Spielsachen – keine Bilder, nichts Schönes. Ihre Flasche stand in ihrem Bett, sie wurde in ihrem Bett gewickelt. Ich glaube nicht, daß nur ein einziges Mal sie jemand in den Arm genommen hat. Als ich die Pflegerin darauf ansprach, sagte sie, es wäre nur Zeitverschwendung, für diese Kinder mehr zu tun, als sie zu füttern und zu wickeln.«
Robin dachte an die kleine Mary Lewis in dem Reihenhaus in London. Wie ein Hündchen in ihrem zerlumpten Korb. Dr. Mackenzie hatte ihr damals erklärt, daß es das Kind bei seiner Familie dennoch besser habe als in einem Heim, aber sie hatte ihm nicht geglaubt. Maia sagte: »Sie hatte sogar das Lächeln verlernt. Sie war am ganzen Körper wund. Und ich glaube, sie war auch nicht altersgemäß gewachsen. Ich mußte sie noch zwei Wochen dort lassen, bis ich eine andere Lösung gefunden hatte, aber ich fühlte mich entsetzlich schuldig, als ich wieder ging. Und ich war wütend, daß ich mich schuldig fühlte. Ich hatte sie ja schließlich nicht gewollt. Ich hatte mit meiner Arbeit in der Firma
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