Das Winterkind
Die Freiwillige Feuerwehr war viel zu spät gekommen. Auf einem Foto über dem Artikel war der lichterloh brennende Dachstuhl zu sehen. Im Vordergrund liefen Helfer umher, die anscheinend versuchten, einen Wasserschlauch an einem Hydranten anzuschließen. Auch wenn man ihre Gesichter nicht sehen konnte, wirkten ihre im Bild festgehaltenen Bewegungen traurig und hoffnungslos. Ganz links war die Silhouette eines fetten, alten Mannes zu erkennen. Er hatte die Hände erhoben, wie ein Dirigent, der vor seinem Orchester steht und den Musikern höchste Konzentration abfordert. Mein Vater war also in der Nacht des Brandes hier gewesen. Doch im Gegensatz zu den Dörflern ging von ihm der Eindruck von Mut und Entschlossenheit aus, als wäre er ganz sicher, auch über das Feuer gebieten zu können.
12. Dezember
Noch zwölf Tage bis zum 24. Dezember.
Heute feiert Ira ihren dreiundfänfzigsten Geburtstag. Ich stelle mir vor, dass es warm ist auf Gomera. Die Sonne scheint. Man kann auf der Terrasse sitzen und auf das Meer hinausschauen. Kleine weiße Boote liegen in derBucht. Es ist wirklich alles so, wie man es von den Postkarten kennt. Ira hat sich von einem deutschen Bäcker frische Brötchen bringen lassen, und ihre Freundinnen sind gekommen, Helga, die Münchner Schriftstellerin, die Kettenraucherin, die so schlechte, braune Zähne hat, dass man sie niemals lächeln sehen möchte; Gudrun, die angebliche Filmemacherin, die wahrscheinlich nur eine einfache Cutterin gewesen war, bevor sie sich für ein Jahr einen reichen Kölner Kaufmann geangelt hatte. Ich glaube nicht, dass Frauen wirklich große Unternehmen leiten können, aber eines verstehen sie besser: die Kunst, Freundschaften zu schließen.
Wenn ich ehrlich war, hatte ich in meinem Leben nur einen richtigen Freund gehabt: Carl, der schmale, picklige Junge, der in der fünften Klasse auf einmal neben mir saß und der noch nie von der Schokoladenfabrik Graf gehört hatte. Von ihm erfuhr ich, dass jemand gegen Milch allergisch sein konnte und schon deshalb keine Schokolade essen durfte.
Im Frühsommer vor drei Jahren hatte Carl sich ein Motorrad gekauft; er plante eine Fahrt durch Kanada, ganz allein, weil ich ihn nicht begleiten konnte, doch schon vier Wochen später verbremste er sich auf der Autobahn und raste unter einen Lastwagen.
»Er ist an seinem Jugendwahn gestorben«, hatte Ira kühl gesagt, während wir vier Schritte von seinem Grab entfernt standen, das uns stumm und grauenhaft dunkel anschaute. Sie hatte Carl nie leiden können. Vielleicht weil ihm etwas gelungen war, was uns nie gelingen würde: Er war Richter geworden und hatte eine weit verzweigte Familie, vier Kinder, alle ordentlich verheiratet, die ihm sogar schon drei hübsche Enkelkinder beschert hatten.
Ich humpelte ins Dorf, mühsam und mit gelegentlichen Pausen. Die Straßen waren überfroren, so dass ich bei jedem Schritt aufpassen musste, nicht zu stürzen. Zumindest war die Schwellung an meinem rechten Knie abgeklungen. Trotzdem brauchte ich fast dreimal so lange für die kurze Strecke wie sonst. Ein paar Leute aus dem Dorf blieben stehen und schauten mich mitleidig an, als wäre ich wirklich über Nacht gealtert. Doch niemand richtete das Wort an mich. Zwei Frauen grüßten mich immerhin.
Ich kaufte ein paar alltägliche Dinge wie Brot, Butter, neue Dosensuppen und zwei Flaschen Wein, dazu eine Taschenlampe und ein kleines Transistorradio, damit ich eine Waffe hatte, wenn die Stille mich zu sehr bedrängte.
Dann versuchte ich Ira zu erreichen. Aber entweder hatte sie ihre Telefonnummer geändert, oder ein spanischer Operator begriff nicht, wohin er mich weiterverbinden sollte. Ich hätte gerne ihre Stimme gehört.
Aus der engen Telefonzelle, den Hörer noch immer in der Hand, konnte ich sehen, dass die Eingangstür der Kirche geöffnet wurde. Zwei alte Frauen, Bäuerinnen mit Kopftuch und dicken schwarzen Mänteln, traten auf den Vorplatz hinaus. Sie blieben einen Moment stehen und blinzelten, als würde das Licht ihren Augen wehtun. Wurde um diese Zeit, um zehn Uhr am Vormittag eine Messe gelesen? Der Gedanke an die rothaarige Organistin und ihren seltsamen Sohn ließ mich langsam die Straße überqueren. In meiner Tasche konnte ich den Schlüssel fühlen, den der Junge zurückgelassen hatte.
Die Kirche war leer, aber aus irgendeinem Winkel drangen Geräusche. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass oben auf dem Orgelboden jemand offenbar mit einem Besen den Holzboden fegte.
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