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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Hoffnung, dass ihn das beruhigen würde.
    Während ich versuchte, das Fahrrad aus dem Schuppen zu zerren, machte ich noch eine andere Entdeckung. Da stand ein alter, grün angestrichener Leiterwagen. Mit soeinem Karren hatte man früher Brennholz aus dem Wald geholt. So schnell ich konnte, schaffte ich alles beiseite, was sich im Weg befand, und holte den Leiterwagen ans Tageslicht. Ein paar Holzstreben an den Seiten waren zerbrochen; ansonsten war der Wagen noch einigermaßen in Ordnung. Zumindest hatte er vier intakte Räder und ließ sich ziehen. Rasch räumte ich aus einer Holzkiste das Werkzeug aus und hievte sie in den Leiterwagen. Die Kiste passte haargenau.
    Schweiß war mir auf die Stirn getreten. Auch mein Knie schmerzte wieder bei jeder Bewegung. Trotzdem gönnte ich mir keine Pause. Im Hintergrund hörte ich die ganze Zeit den Fischreiher krächzen, als wollte er mich zu besonderer Eile anhalten. Der schwierigste Teil meiner Arbeit stand aber noch bevor. Als ich die Tür zum Schuppen wieder schloss, sah ich, dass ein Netz an der Decke hing, wie es ein Fischer früher auf dem See benutzt haben mochte. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Mit der Decke und dem Netz konnte es mir vielleicht gelingen, den Fischreiher einzufangen.
    Der Vogel wartete auf mich. Er hatte sich auf die Wiese gehockt und schaute mich an. Sein graues Gefieder leuchtete im Sonnenlicht. Von der Wunde am rechten Flügel war nichts zu sehen.
    Ich nahm die Decke und schlich vorsichtig auf ihn zu. Dabei redete ich wieder mit leisen Worten auf ihn ein. Für einen flüchtigen Augenblick überlegte ich, was Ira denken würde, wenn sie mich so sähe. Wahrscheinlich hätte sie mich für verrückt gehalten, dass ich mit einer Decke bewaffnet auf einen ausgewachsenen Fischreiher losging, um sein Leben zu retten. Nein, sie hätte mich gar nicht erkannt, weil sie nicht erwartet hätte, dass ich versuchenwürde, einen Fischreiher zu retten; ich wäre ihr wie ein ganz fremder Mensch vorgekommen.
    Der Fischreiher spürte, dass ich etwas im Schilde führte. Aufgeregt zuckten seine braunen Augen hin und her. Schätzte er seine Möglichkeiten zur Flucht ein? Er rührte sich aber nicht von der Stelle. Ich war auf zwei Schritte herangekommen und bemühte mich unauffällig, die Decke in meinen Händen auszubreiten. Ich schaute den Vogel an. Diesmal meinte ich keine Angst in seinen Augen zu erkennen, eher eine Art nervöses Interesse. Wenn ich zu ungestüm vorging, könnte ich nicht nur ihn, sondern auch mich an seinem langen Schnabel verletzten. Wieder versuchte der Reiher vollkommen hilflos, seine Flügel auszubreiten. Ich holte tief Luft, wie ein Taucher, bevor er sich ins Wasser fallen ließ, und stürzte vor. Den Schmerz in meinem Knie registrierte ich nur ganz beiläufig, so als gehörte er nicht wirklich zu mir.
    Ich warf die Decke über den Vogel und versuchte sie gleichzeitig an den Enden zusammenzuhalten, damit ich sie wie einen Sack nehmen und mit dem eingefangenen Reiher in den Leiterwagen hieven konnte.
    Der Fischreiher krächzte auf. Panik lag in diesem Schrei, der Angstschrei eines sterbenden Tieres, der mir durch Mark und Bein ging. Ruckartig warf er den Kopf herum, um mich mit seinem Schnabel abzuwehren. Auf diese Gegenwehr war ich vorbereitet. Ich drückte den Vogel mit meinem ganzen Gewicht zu Boden und hielt ihn fest. Ein seltsamer Geruch strömte durch die Decke. Nach Wasser und feuchter Erde roch das Gefieder des Fischreihers. Noch nie hatte ich den warmen Körper eines Raubvogels unter meinen Händen gespürt.
    Schließlich, als der Fischreiher sich nicht mehr wehrteund ich nur noch ein Zittern spüren konnte, das seinen Körper durchlief, packte ich die Decke, hob sie an und trug sie das kurze Stück zu dem Leiterwagen hinüber. Der Vogel konnte seine Chance nicht nutzen. Zwar versuchte er voller Panik die Decke abzuschütteln, doch sofort gelang es mir, auch noch das Fischernetz über ihn zu werfen. Nun war er endgültig gefangen, selbst wenn er sich aus der Wolldecke hätte winden können.
    Ich verlor keine Zeit, gestattete mir trotz der Kälte keine heiße Tasse Kaffee, sondern machte mich sofort auf den Weg ins Dorf. Der Vogel gab keinen Laut von sich. Stumm hatte er sich in sein Schicksal ergeben. Oder hatte er meinen Angriff doch nicht überlebt? Ich wagte nicht, daran zu denken, dass ich möglicherweise mit einem gerade verendeten Fischreiher ins Dorf eilte.
    Auch wenn ich mit jedem Schritt auf der vereisten, rutschigen Straße

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