Das Winterkind
so angespannt da, als müsste im nächsten Moment jemand hereinkommen und das Wort an mich richten.
Dann tat ich etwas sehr Merkwürdiges. Ich hatte im Kü-chenschrank meines Vaters eine Tafel Schokolade entdeckt. Längst musste sie brüchig und ungenießbar geworden sein. Ich nahm die Schokolade, auf der stolz und mächtig unser Logo prangte, und legte sie vor mich auf den Tisch. Eine Zeit lang starrte ich die Schokolade an, als würde ich erwarten, dass sie sich bewegte, als wäre sie ein seltenes Nachttier, das sich unter den Blicken meiner Röntgenaugen zu regen beginnen würde, wenn ich nurlange genug wartete. Oder als wäre die Schokolade ein neumodisches Wunderwerk, das sprechen konnte, eine Art supermodernes Funktelefon, mit dem man überall mit jedem in Verbindung treten konnte. Die Ecken des Papiers waren abgestoßen und vergilbt. In unserem Markenzeichen, den kantigen, ineinander verwobenen Buchstaben J und G, glaubte ich auf einmal, den Schatten meines Vaters zu erkennen. Der Schatten schien ein wenig zu flackern, weil das Papier durch Alter und Feuchtigkeit wellig geworden war. Hatte mein Vater irgendwo hinter unseren Initialen sein Schattenbild verborgen, ohne dass es mir je aufgefallen war? Schließlich riss ich die Packung auf. Das Stanniolpapier war spröde und brüchig geworden. Die Schokolade sah alles andere als appetitlich aus: braun und stumm, mit hellen Flecken lag sie da. In dieses hässliche Ungetüm hätte niemand gerne hineingebissen.
Plötzlich spürte ich, wie etwas meine Kehle hinaufwanderte, ein unangenehmes, gedrungenes Gefühl. Ich atmete anders, abgehackter, schwerfälliger. Dann sprang ein Lachen aus meinem Mund, ein lautes, fremdes Lachen, das ich so noch nie an mir gehört hatte. Ich hatte keine Ahnung, worüber ich lachte. Vielleicht über mich selbst, über die Situation, in die ich mich gebracht hatte, oder aber ich lachte tatsächlich eine alte, unansehnliche Tafel Schokolade aus, die mein Vater aufbewahrt und die seinen Tod um zehn Jahre überdauert hatte.
Immer noch lachend und ohne die Schmerzen in meinem Knie zu spüren, stand ich auf und holte die Pistole aus dem einzigen Koffer hervor, mit dem ich hier in das Haus gekommen war. Ganz leicht lag die Pistole in meiner Hand. Fast konnte ich den Eindruck haben, als wäre sie gar nicht echt, sondern nur ein Spielzeug, eine billige Attrappe.Vor fast zwanzig Jahren, als Ira wegen einiger Drohanrufe sehr besorgt gewesen war, hatte ich sie gekauft. Doch nie hatte ich auch nur einen Schuss mit ihr abgegeben.
Erst als ich die Pistole neben die Schokolade legte, hörte ich auf zu lachen. Es war ein seltsames Bild, das Stillleben eines verrückten Malers: Ungenießbare Schokolade mit einer kleinkalibrigen Pistole.
Nichts war einfacher als der Tod: Ich hätte die Pistole nur nehmen und entsichern müssen, ein schneller Griff, und ich würde blind und stumm ins Nirgendwo davontru-deln. Eigentlich hatte ich immer gewusst, von Anfang an, dass es keinen Sinn im Leben gab. Als sie den bleichen, toten Martin in den Sarg legten, der viel zu klein und unwirklich aussah, hatte ich es gewusst; als Ira mir zuflüsterte, dass sie nie wieder mit mir schlafen würde, und als ich mein Büro verließ, an Ochs, meinem Fahrer, und an meinen Sekretärinnen vorbeiging und zum letzten Mal die Tür hinter mir zuzog. Nein, noch viel früher hatte ich es gewusst. Während der hellbraune Sarg meiner Mutter, auf dem ein Strauß mit weißen Rosen lag, in einem schwarzen Loch versank, hatte es in roten flammenden Buchstaben am Himmel gestanden: Es gibt keinen Sinn. Nicht einmal die Tränen meines Vaters, den ich noch nie hatte weinen sehen, hatten einen Unterschied gemacht.
Ich nahm die Waffe, wiegte sie in der Hand. Dann fiel mir wieder der Junge ein. Wenn er weiterhin um das Haus schlich, würde er meine Leiche finden, einen fremden toten Mann mit einem hässlichen Loch im Kopf.
Ich musste noch einmal eingeschlafen sein, auf den Tisch gesunken, mit der Pistole in der Hand, doch als ich aufschreckte,kündigte draußen am Himmel ein rötlicher Schimmer den Morgen an. Ich hatte ein Geräusch gehört, keine Stimmen, keine Schritte, ein leises, schrilles, krächzendes Geräusch, wie der erstickte Schrei einer Eule. Als ich vor die Tür trat, sah ich im ersten Licht des Tages den Fischreiher. Er stand auf der Wiese vor dem Haus, machte ein paar kraftlose Sprünge und versuchte, seine Flügel auszubreiten.
Man musste kein Tierarzt oder Biologe sein, um zu
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