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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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sehen, dass mit dem Vogel etwas nicht stimmte. Ängstlich, mit ruckhaften Kopfbewegungen beobachtete er, wie ich mich näherte, und schlug noch hektischer mit den Flügeln, doch er flog nicht davon. Er stieß ein lautes Krächzen aus, das wie ein Hilferuf klang. Langsam, Schritt für Schritt ging ich auf ihn zu. Das gefrorene Gras knisterte unter meinen Füßen. Fast war es, als würde ich über Glasscherben gehen. »Ganz ruhig«, sagte ich leise zu dem Vogel und hob meine Hände. »Es wird dir nichts passieren.«
    Der Fischreiher vermochte seinen linken Flügel auszubreiten und ein paar wilde Sprünge zu machen. Sein rechter Flügel jedoch schien verletzt zu sein.
    Ich schaffte es, bis auf vier Schritte heranzukommen. Der Vogel war erschöpft, offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Misstrauisch beäugte er mich. Unruhig wanderten seine Augen hin und her. Was tut man mit einem verletzten Fischreiher? Ich hatte keine Ahnung. Dann sah ich das Blut an seinem grauen Gefieder, nicht viel, nur eine dünne zarte Spur, doch eine ungeheure Wut erfasste mich. Der Schütze vom See war gar nicht so unfähig gewesen, wie es zunächst ausgesehen hatte.
    Der Fischreiher krächzte wieder heiser auf. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen, oder er war auf eine instinktiveWeise verzweifelt, dass er sich nicht mehr einfach in die Luft erheben und davonfliegen konnte. Als ich einen weiteren Schritt auf ihn zumachte, wich er nicht zurück. Ein paar stille Momente schauten wir uns nur an. Hinter uns war die Sonne aufgegangen. Der Himmel war in ein helles, klares Rot getaucht. Fischreiher sind stolze, recht große Raubvögel. Mit ihrem langen Schnabel können sie möglicherweise sogar einem Menschen gefährlich werden, der sich ihnen unbedachtsam nähert. Ich spürte, dass ich in der Kälte des Morgens leise und abgehackt atmete, als machte ich mich für einen Kampfbereit. Mit bloßen Händen würde ich den Vogel nicht einfangen können, aber wenn ich ihn nicht zu einem Tierarzt brachte, würde er wahrscheinlich hier vor meinen Augen verenden. Gab es im Dorf überhaupt einen Tierarzt? Ich hätte auch wieder ins Haus gehen können und so tun, als hätte ich nichts bemerkt.
    Mir fiel ein, dass ich einmal beobachtet hatte, wie Ira einen Kanarienvogel in unserem Garten eingefangen hatte. Sie hatte dem Vogel ein paar Körner hingestreut und dann ein leichtes Seidentuch über ihn geworfen.
    Ohne den Vogel aus den Augen zu lassen, ging ich zum Haus zurück. Einmal noch versuchte er seine Flügel auszubreiten, doch so kraftlos und erschöpft, als wüsste er längst, dass er nicht mehr fliegen könnte. Unter der Holztreppe, die in den Schlafraum hinaufführte, fand ich eine graue, verfilzte Wolldecke. Fisch gehörte nicht zu meinen Vorräten, daher brach ich ein paar Stücke Brot ab, um sie dem Vogel hinzuwerfen. Vielleicht gelang es mir, ihn ein wenig abzulenken.
    Eine Frage hatte ich allerdings noch gar nicht bedacht. Selbst wenn es mir gelang, den Vogel einzufangen – wie sollte ich ihn ins Dorf befördern?
    Ich eilte aus dem Haus in den Geräteschuppen. Der Fischreiher hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Auf seinen dürren gelben Beinen stand er da und wandte den Kopf in meine Richtung. Mitunter stieß er einen langen krächzenden Laut aus.
    Den Schuppen hatte ich nur einmal betreten, als ich das Dach repariert hatte. Durch ein winziges, schmutziges Fenster drang kaum Licht. In einem heillosen Durcheinander entdeckte ich einen Rasenmäher, Gartengeräte, Blecheimer, einen Schlauch, ein rostiges Fahrrad, eine Kreissäge, mehrere Holzkisten mit Werkzeug, Schrauben und kleineren Farbdosen. Alles war voller Spinnweben und wahrscheinlich seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzt worden. Konnte ich das Fahrrad wieder flott machen und den Fischreiher in einer Holzkiste ins Dorf schaffen?
    Der Fischreiher krächzte in einer neuen, aufgeregten Tonlage. Durch das Fenster konnte ich sehen, dass er wieder ein paar Sprünge versuchte und mit seinem linken, unversehrten Flügel schlug. Dann bemerkte ich, was ihn so in Aufregung versetzt hatte. Geduckt und mit höchster Vorsicht näherte sich eine getigerte Katze, die mir schon einige Male im Garten aufgefallen war.
    Ich griff mir eine Harke und stürzte aus dem Schuppen hervor. Sofort machte die Katze kehrt und verschwand im Gebüsch. Aber auch den Fischreiher hatte ich in helle Panik versetzt. Er hüpfte herum und plagte sich erneut, seine Flügel auszubreiten. Ich warf ihm ein paar Brotkrumen hin, in der

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