Das Winterkind
Sie können nicht einfach …«
Ich beachtete sie nicht weiter und öffnete die Tür.
Doktor Heinrich Melles sah aus wie ein untersetzter, in die Jahre gekommener Preisboxer. Er hatte dichte graue Haare, ein breites Kreuz und behaarte, muskulöse Unterarme. Überrascht drehte er sich um. Hinter ihm, auf einem Operationstisch, lag eine betäubte Katze. Ich war offensichtlich im denkbar ungünstigsten Moment hereingeplatzt. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
»Hören Sie …«, sagte der Arzt. Arger lag in seiner Stimme.
Ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es handelt sich um einen akuten Notfall«, erklärte ich und versuchte, ganz autoritär zu klingen. »Ich habe draußen einen sterbenden Fischreiher.«
Heinrich Melles machte einen Schritt auf mich zu. Tiefe, ungläubige Falten gruben sich in seine Stirn.
»Kommen Sie«, forderte ich ihn auf, und er folgte mir tatsächlich, schritt hinter mir an der erstaunten Sprechstundenhilfe vorbei und eilte nach draußen zum Leiterwagen.
»Er kann nicht mehr fliegen«, sagte ich und blickte auf das Fischernetz hinab. Man brauchte eine Menge Fantasie, um sich vorzustellen, dass darunter ein Tier verborgensein sollte. »Ich musste ihn irgendwie einfangen«, fügte ich entschuldigend hinzu.
»Hören Sie«, wiederholte der Tierarzt und stemmte seine muskulösen Unterarme in die Hüften. »Sie stehlen meine Zeit, wenn Sie mir erzählen wollen …« Doch in diesem Augenblick stieß der Vogel ein langes, jämmerliches Krächzen aus.
Der Tierarzt bedachte mich mit einem fragenden, aber eindeutig freundlicheren Blick. »Also gut, schauen wir uns diesen ungewöhnlichen Patienten einmal an.«
Gemeinsam schoben wir das Fischernetz vorsichtig beiseite. Dem Fischreiher war es immerhin gelungen, seinen Kopf aus der Decke zu winden. Hektisch, mit ruckendem Hals starrte er uns entgegen. Aufgeregt hüpften seine schwarzen Augen hin und her. Ich bemerkte, dass der Tierarzt lächelte, als er sich über den Vogel beugte.
»Ein prächtiges Tier«, sagte er vor sich hin. »Noch recht jung, zwei oder drei Jahre, schätze ich.« Mit einer schnellen, geschickten Bewegung packte Heinrich Melles das Tier am Hals und klemmte es sich unter den Arm. Der Fischreiher krächzte einmal laut auf, hatte aber keine Gelegenheit, wild mit den Flügeln zu schlagen. Dann kehrte Melles mit seiner seltsamen Fracht ins Haus zurück und rief seiner Assistentin schon im Flur zu, den Operationstisch frei zu machen und eine Betäubungsspritze aufzuziehen.
Ich spürte, wie mich eine Welle der Erleichterung erfasste. Der Vogel war nicht in meinem Karren verendet. Ich hatte meine Aufgabe erledigt. Als ich mich schon wieder umdrehen wollte, um zu gehen, hörte ich aus dem Behandlungszimmer die Stimme des Arztes.
»Kommen Sie, Herr Graf«, rief er. Offensichtlich wusstejedermann im Dorf, wer ich war. »Sie können uns helfen und mir ein paar Dinge über ihren Vogel verraten.«
Die blonde Assistentin zog mit ernster Miene die Spritze auf, während der Arzt mit dem zitternden Vogel im Arm über dem Operationstisch hockte und versonnen lächelte, als hielte er ein gesundes neugeborenes Kind. Die Katze, die er ursprünglich operieren wollte, lag in einem Metallkorb auf einem Tisch in der Ecke. Wie tot sah sie aus oder so, als träumte sie von einem Katzenparadies.
»Es ist nicht mein Vogel«, sagte ich und trat einen Schritt in den Raum hinein. »Ich glaube, jemand hat ihn angeschossen.«
Der Arzt nickte verständig. »Fischreiher sind zu gefräßig. Sie können eine ganze Fischzucht vernichten. Da denkt sich der eine oder andere, dass er das Problem am besten mit einer Flinte löst.«
Die Sprechstundenhilfe schaute mich unfreundlich an und runzelte die Stirn. Vermutlich nahm sie mir immer noch mein überfallartiges Eindringen übel. Dann trat sie neben den Arzt und reichte ihm eine Spritze. Der Vogel krächzte auf, als er sie ansetzte, ein eher leiser, mutloser Laut. Das Tier war am Ende seiner Kraft.
»Reiher sind faszinierende Tiere«, erklärte der Arzt. »Manche sind scheue Einzelgänger, andere hingegen sind so zutraulich, dass sie sogar in einem Vorgarten nisten würden, wenn man sie ließe. Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Er saß vor meiner Tür«, antwortete ich.
Melles lachte wieder. »Klar, solche Vögel wissen sich immer zu helfen.« Er ließ den erschöpften Reiher los und bettete ihn auf die Seite. Die Betäubung zeigte bereits ihre Wirkung. Zeit für mich, endlich den Rückzug
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