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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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anzutreten.
    Der Tierarzt trat zu einem Waschbecken und begann sich ausführlich die Hände einzuseifen. »Ich schaue mir Ihren Vogel jetzt genauer an«, sagte er mit geschäftsmäßiger Stimme. »Wahrscheinlich hat eine Kugel nur seinen Flügel gestreift, anderenfalls wäre er kaum am Leben geblieben. Ich schlage vor, dass Sie den Reiher ein paar Tage in Ihrem Garten behalten und sich um ihn kümmern, bis er sich erholt hat.«
    »In meinem Garten?« Ich verstand nicht sofort, worauf Melles hinauswollte.
    »Bauen Sie dem Vogel einen provisorischen Käfig. Ein paar Holzpflöcke und einige Meter Maschendraht – mehr brauchen Sie dazu nicht. Gibt es alles beim Holzhandel an der Tankstelle.«
    Melles hatte seine behaarten Unterarme so stark eingeseift, dass es aussah, als hätte er sie in weiße Farbe getaucht. Sorgfältig fing er an, die Seife abzuwaschen. Ich suchte nach Anzeichen in seinem Gesicht, dass auch er einen müden, heruntergekommenen Mann in mir sah und sich einen Spaß mit mir erlaubte, aber ich entdeckte nichts. Konzentriert musterte er den Reiher, der inzwischen in tiefe Bewusstlosigkeit gesunken war.
    »Ich verstehe nichts davon«, erwiderte ich unsicher. »Ich kann mich nicht um einen verletzten Vogel kümmern.«
    Melles legte sich den Vogel zurecht, zupfte an seinen Flügeln, als wäre er ein Brathähnchen, das er für den Backofen zurechtmachen wollte. »Ich werde Ihnen alles aufschreiben, was Sie beachten und wie Sie das Tier füttern müssen. Bei mir kann der Reiher auf jeden Fall nicht bleiben. Ich habe ein paar Hunde und Katzen im Hof in Verwahrung. Die würden glatt durchdrehen, wenn ich ihnen so einen hübschen Leckerbissen vor die Nase setze.«
    »Ich kann das nicht«, erwiderte ich leise. Ich sah, dass ich plötzlich in einer schmutzigen Wasserlache stand. Das Eis an meinen Schuhen war geschmolzen.
    Der Arzt zog sich dünne, durchsichtige Handschuhe über und breitete vorsichtig einen Flügel des Fischreihers aus. »Ich kenne Ihr Grundstück, Herr Graf«, sagte er. »Ihr Vater war ein ehrenwerter Mann. Er hat mich einmal auf ein Glas Rotwein eingeladen. Es reicht, wenn Sie fünf, sechs Quadratmeter auf Ihrer Wiese einzäunen. Ich denke, nach ein paar Tagen wird der Reiher wieder fliegen können.«
    »Vor Weihnachten ist die Sache erledigt?«, fragte ich.
    »Wenn keine Komplikationen eintreten, denke ich schon. Der Reiher hat eine gute Konstitution. Andernfalls hätte er den Winter bei diesen Temperaturen ohnehin nicht überlebt.« Der Arzt lächelte wieder. Er hatte makellos weiße Zähne. Wie ein Schauspieler, dachte ich. »Aber bald werden Sie sich so an das Tier gewöhnt haben, dass Sie es am liebsten für immer behalten würden.«
    Heinrich Melles war ein umsichtiger Mann. Er hatte seine Sprechstundenhilfe schon meine Bestellung für das Holz durchgeben lassen, das ich für den Vogelkäfig benötigte. Mir war die Tankstelle vorher nie aufgefallen. Sie lag ein paar hundert Meter außerhalb des Dorfes an der Bundesstraße, die um diese Jahreszeit wenig befahren war. Ein Tankwart in einem verschmierten blauen Overall, der die ganze Zeit auf einem Streichholz herumkaute, hatte schon alles für mich zurechtgelegt. Anscheinend gehörte dem Mann auch der Holzhandel hinter seiner Tankstelle. So ein sonderbares Geschäft hatte ich noch nie gesehen: drei Zapfsäulen, ein winziger Laden mit einem Getränkeregalund einem Zeitungsstand, eine Halle mit Motorrollern und zwei zerbeulten Autos, dahinter ein Lager mit einem Sammelsurium von Brettern und Kanthölzern.
    Ich musste den Maschendraht, die Nägel und das Holz nicht einmal sofort bezahlen. »Kommen Sie vorbei, wenn es Ihnen passt, Herr Graf«, sagte der Tankwart, als er mir alles auf den Karren lud. Er sprach leise, ein menschenscheuer Flüsterer, der mir vor Ehrfurcht nicht in die Augen sehen konnte. Wenigstens erwähnte er meinen Vater nicht. Ich grüßte und zog wieder davon.
    Ein heftiger Wind wehte plötzlich vom See herüber und brachte ein paar graue, tief hängende Wolken mit. Es roch nach Schnee. Wie lange hatte ich diesen Geruch nicht mehr wahrgenommen? Irgendwie gehörte er zu meiner Kindheit, in die Zeit, als meine Mutter noch lebte. Aufgeregt hüpften ein paar Spatzen am Himmel entlang, als machten sie sich Sorgen, wo der Reiher abgeblieben war. An der Kirche strahlte der Weihnachtsbaum in hellem Glanz. Anscheinend hatte die Pastorin beschlossen, zumindest auf ihrem Vorplatz die drohende Dunkelheit ein wenig zu

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