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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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vertreiben.
    Unwillkürlich fiel mir der Junge wieder ein. Ich hatte im meiner Eile vergessen, die Eingangstür abzuschließen. Wenn er früher aus der Schule gekommen war und um das Haus schlich, würde er die Pistole finden, und so unberechenbar, wie er sich gezeigt hatte, konnte er mit einer scharfen Waffe Gott weiß was anstellen.
    Der Wind machte mir zu schaffen. So sehr ich mich anstrengte, manchmal hatte ich den Eindruck, mit meinem beladenen Karren gar nicht von der Stelle zu kommen. Das Haus wirkte verlassen. Offensichtlich hatte ich keinen ungebetenen Besuch erhalten. Auch Borger in seinem teuren,polierten Mercedes war nicht aufgetaucht. Ich betrat das Haus. Alles war ruhig. Friedlich lag die Pistole neben der Schokolade auf dem Tisch. Als ich mich für einen Moment setzte, spürte ich, wie eine Welle der Erschöpfung über mich hinwegspülte. Ich schloss die Augen und horchte in mich hinein. Dunkel und schwer schlug mein Herz, und von meinem rechten Knie ging ein schmerzhaftes Glühen aus. Doch ich durfte mir keine Pause gönnen. Wir hatten vereinbart, dass Melles in spätestens drei Stunden, bevor er seine Praxis wieder öffnete, mit dem Fischreiher bei mir auftauchen würde. Bis dahin musste ich meinen behelfsmäßigen Verschlag fertig haben.
    Auf der Wiese lagen ein paar graue Federn. Ich lud das Holz und den Maschendraht ab und begann, die verschiedenen Werkzeuge zusammenzusuchen.
    Nichts ist schwerer, als im Winter in der gefrorenen Erde Löcher zu graben. Man kennt die Klage der Totengräber, die früher nicht selten mitten in der Nacht aufstehen mussten, um ein Grab vorzubereiten. Nach über einer Stunde erst hatte ich es geschafft, vier winzige Löcher in die harte Erde zu schlagen. Zum Glück hatte ich so viel Material, dass ich die Eckpfeiler mit kürzeren Kanthölzern abstützen konnte. Dann machte ich mich unverzüglich daran, den Maschendraht abzuwickeln und mit Nägeln an den einzelnen Pfosten zu befestigen. Meine handwerklichen Fertigkeiten hielten sich in engen Grenzen, ich konnte mich auch nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Hammer in die Hand genommen hatte, doch immerhin sah das Drahtgebilde, das allmählich entstand, wie ein behelfsmäßiger Käfig aus.
    Ich arbeitete mich in eine zufriedene Erschöpfung hinein, ohne schwere Gedanken, nur auf den nächstenHandgriff konzentriert. Die Stimme, die meinen Namen rief, nahm ich erst gar nicht wahr. Sie klang auch ganz weit entfernt, wie die Erinnerung an einen Ruf, den ich einmal vor langer Zeit gehört hatte.
    »Herr Graf, hallo …«, sagte die Stimme wieder recht zaghaft.
    Ich drehte mich um. Die Pastorin lehnte am Zaun, fast an derselben Stelle, an der ich auch ihren Sohn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie trug einen schwarzen Mantel. Eine Kapuze verdeckte ihr Haar und warf einen Schatten auf ihr Gesicht. Sie sah müde aus. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie mich schon beobachtet hatte, aber so wie sie dastand, schien sie nicht erst in diesem Moment gekommen zu sein.
    »Ich habe gehört, dass Sie bald einen Vogel besitzen werden.« Die Pastorin lächelte unsicher, Ironie hatte nicht in ihrer Stimme gelegen, und dann blickte sie zum Haus hinüber, als erwartete sie, dass von dort ein höchst unliebsamer, vielleicht sogar gefährlicher Gast auftauchen könnte. Hatte sie Angst, meine Frau wäre bei mir und könnte ihren Besuch als aufdringlich empfinden?
    »Sie sind gut informiert.« Ich legte mein Werkzeug beiseite und ging zu ihr. Es gelang mir mit Mühe, ein peinliches Humpeln zu unterdrücken. »Der Fischreiher, den wir neulich gesehen haben, ist wahrscheinlich angeschossen worden. Der Tierarzt will ihn mir zur Pflege überlassen.«
    Hedda nickte. Sie wandte sich mir zu, sah aber an mir vorbei, als würde sich hinter mir ein Geist materialisieren. Ein törichter Satz kam mir in den Sinn. Nein, kein Satz, eher eine Frage: Warum schlafen Sie so schlecht?
    Ich beugte mich so weit vor, dass ich mein winziges Schattenbild in ihren Augen sehen konnte, ein kleiner blinderFleck inmitten von dunklem Grün. »Möchten Sie für einen Moment ins Haus kommen? Ich könnte uns einen Kaffee machen.« Noch während ich meine Einladung aussprach, dachte ich an die Pistole, die immer noch auf dem Tisch lag. Vielleicht klang ich daher nicht so überzeugend.
    Die Pastorin schaute mich an. »Vielen Dank, aber ich suche Mark. Manchmal treibt er sich hier herum. Haben Sie ihn gesehen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.« Mir fehlte der Mut,

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