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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Sie werden viel Spaß mit dem Vogel haben; vor allem, wenn Sie nach ein paar Tagen sehen, wie schön er dann wieder fliegen kann.«
    Von Osten zog bereits die Dunkelheit herauf. Es wurde noch kälter, oder aber ich hatte zum ersten Mal wieder Zeit, die Kälte zu registrieren. Ich spürte plötzlich, wie müde ich war. Den ganzen Tag war ich nur mit dem Fischreiher beschäftigt gewesen.
    »Wenn Sie wollen, kann ich uns einen Kaffee kochen«, sagte ich.
    Melles schüttelte den Kopf. »Ich muss leider in meine Praxis zurück. Die Holzkiste lassen ich Ihnen da, und wenn Sie Fragen haben, rufen Sie mich an.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche seines Parkas. Ich verriet ihm nicht, dass ich nicht einmal ein Telefon besaß.
    Als er wieder in seinen Landrover stieg, verharrte er einen Moment und blickte zum Haus hinüber. Leicht angewidert, wie ein durch und durch professioneller Makler, den man mit einem falschen Versprechen in diese trostlose Gegend gelockt hatte, fragte er: »Fühlen Sie sich hier wohl? Gefällt Ihnen das Leben in so einer Hütte?«
    Ich konnte mir leicht vorstellen, was er sah: ein eher schlichtes Holzhaus mit einer zerschlagenen Eingangstür, einer behelfsmäßigen Dusche, einer rostigen Regentonne. Zum Glück hatte er keinen Blick ins Innere geworfen.
    »Es ist nur vorübergehend«, erwiderte ich und bemühte mich, nicht wie ein Verlierer zu klingen. »Ich habe noch andere Pläne.«
    Bevor Melles einstieg, bedachte er mich mit einem langen, zweifelnden Blick. Er glaubte mir kein Wort. Doch statt einer Floskel oder eines Abschiedsgrußes sagte er: »Passen Sie auf die Pastorin auf.« Es klang wie eine Warnung. Dann tippte er sich mit zwei Fingern an die Stirn und fuhr davon.
    Ich schaute ihm nach, beobachtete, wie die Bremslichteraufleuchteten, als Melles auf die Hauptstraße ins Dorf bog, und fühlte mich wie betäubt. War ich da in einen Kleinkrieg hineingeraten, den das Dorf mit einer Pastorin führte, die keinen Mann, sondern nur einen Jungen hatte, der sich offenkundig sehr merkwürdig verhielt?
    Als ich mich umdrehte, sah ich den Fischreiher. Er hatte seine Kiste verlassen und begann mit langsamen, unsicher wirkenden Bewegungen einzelne kleine Stücke aus dem Fisch zu picken. Sein rechter Flügel war halb ausgebreitet und steckte in einer Art Zwinge, aber es wirkte nicht halb so erschreckend, wie ich erwartet hatte. Der Kopf des Vogels ruckte einmal hoch. Er schaute mich an, als würde er nachdenken, dann schien er zu dem Schluss zu gelangen, dass von mir keine Gefahr ausging. Der Reiher machte sich sogleich wieder über den Fisch her. Konnte ein Vogel Menschen riechen? Wusste er, dass ich ihn gerettet hatte und dass er noch einmal davongekommen war?
    Ich ging ins Haus. Meine Hände waren schmutzig und halb erfroren. Ich tauchte sie in kaltes Wasser, und dann fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, dem Reiher Wasser bereitzustellen. Wenn er schon nicht zum See fliegen konnte, musste er wenigstens eine Schale Wasser haben. Ich nahm eine Glasschlüssel, in die filigrane Muster eingraviert waren und die meinen Vater wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatte, und füllte sie mit Wasser, um sie dem Vogel zu bringen.
    In den wenigen Minuten, die ich im Haus verbracht hatte, war die Dunkelheit herangeschlichen. Nur über dem See schwebte noch ein silbriges Licht. Der Fischreiher war kaum mehr als ein dünner Schatten, doch ich konnte erkennen, dass er den Fisch gefressen hatte. Mit einigerMühe gelang es mir, die Schale unter dem Draht hindurchzuschieben. Ich hatte keine schlechte Arbeit geleistet.
    Nun endlich gab es nichts mehr für mich zu tun. Ich konnte mir eine Dosensuppe aufwärmen, mein geschundenes Knie kühlen und mich ausruhen. Ruhe brauchte ich mehr als alles andere. Nein, dachte ich dann, ich hatte noch eine Aufgabe: Ich musste mir einen Namen für den Fischreiher ausdenken.

15. Dezember
    Gestern war der härteste Tag seit meiner Flucht zum See. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so schwer gearbeitet zu haben. Selbst vierzehn Stunden in der Fabrik, endlose Konferenzen und Inspektionen in der Produktion waren nicht so anstrengend wie die Wanderung mit dem Fischreiher zum Arzt und der Bau des Käfigs. Vollkommen erschöpft, mit Schmerzen in den Händen und in meinem Knie hatte ich den ganzen Abend vor einer Tasse Kaffee gesessen und hineingeschaut, als wäre ich ein Hellseher, der vor seiner Kristallkugel hockte. Im Hintergrund lief Brahms, aber eigentlich horchte ich nur auf

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