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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Geräusche von draußen. Krächzte der Fischreiher? Stieß er dann und wann verzweifelte Laute aus? Ich hörte nichts, und manchmal plagte ich mich von meinem Stuhl auf und humpelte zum Fenster. Kein Mond stand am Himmel, trotzdem meinte ich den Vogel stocksteif in seinem Käfig stehen zu sehen, als lauschte er in die weite, stille Nacht hinaus.
    Ich hatte noch keinen Namen für ihn. Welche Namenkann ein Fischreiher tragen? Ich hätte ihn irgendwie nennen können, »Charlie« oder »Sky« oder »Dezember«, weil ich ihn im Dezember gefunden hatte. Aber das waren keine Namen für diesen einen, ganz besonderen Vogel.
    Bevor ich in den Schlafraum hinaufkroch, gönnte ich mir zwei Gläser Wein. Ich sehnte mich nach Ira und sogar nach meinem alten rechthaberischen Vater. Ich meinte, seinen Geruch wahrzunehmen; nie hatte ich diesen Geruch ertragen können, aber nun machte er mir nichts aus, im Gegenteil.
    Es war halb zwei, als ich erwachte. Ich war so müde gewesen, dass ich nicht einmal meine Brille abgelegt hatte. Eine unangenehme Kälte umgab mich. Die Elektroheizung im Haus vermochte die Temperatur lediglich im Wohnraum auf knapp achtzehn Grad zu halten. Der Fischreiher krächzte, ein heiserer, alles durchdringender Laut. Sind Reiher auch in der Nacht aktiv? Das raue »Kraik-Kraik« wiederholte sich. Bedeutete dieser Ruf etwas? Die Katze, fiel mir ein, die Katze streicht umher. So sicher war mein behelfsmäßiger Käfig nicht, dass er eine Katze abhalten würde. Rasch zog ich mich im Dunkeln an und eilte so schnell hinaus, wie es meine schmerzenden Glieder zuließen.
    Es war, als liefe ich gegen eine Wand aus Kälte. Die Luft schien zu gefrieren. Zum Glück hatte ich eine Taschenlampe gekauft. Der Reiher hatte sich in die Ecke verkrochen, in die der Tierarzt das Stroh geworfen hatte. Von der Katze war nichts zu sehen. Ich ging langsam um das provisorische Gehege herum. Wahrscheinlich hatte ich sie längst verscheucht. Die Nacht war so dunkel und still, dass man jedes Geräusch auf ein paar Kilometer gehört hätte.Aber kein Laut war zu vernehmen. Auch der Reiher hatte sich wieder beruhigt. Nur meine Schritte knirschten auf dem Gras.
    Die Kälte trieb mich ins Haus zurück. Ich rückte mir zwei Stühle zurecht und postierte mich am Fenster. Der Fischreiher war als vager Schemen in der Finsternis zu erahnen. Kein Stern stand am Himmel, nichts erhellte die Nacht, und doch schien von dem Vogel ein sanftes, graues Licht auszugehen. Plötzlich wusste ich, wie der Vogel für mich hieß. Er sollte einen besonderen und zugleich einfachen Namen tragen. Ich würde ihn »Licht« nennen.
    Ich hielt Wache für Licht, starrte aus dem dunklen Haus auf die nachtschwarze Wiese und gab Acht, dass sich die Katze nicht wieder näherte. Manchmal hatte ich den Eindruck, gar nicht mehr zu atmen, sondern nur zu lauschen. Das Haus stöhnte und ächzte in der Kälte.
    Es hatte nicht viele Nächte in meinem Leben gegeben, in denen ich so reglos dagesessen hatte. Nach Martins Tod. Nach dem Konkurs der Firma. Im Leben eines jeden Menschen gibt es einen toten Punkt, an den er unweigerlich gelangt, hatte mein Vater mir einmal gesagt. Er war an seinem toten Punkt gewesen, als sie ihn aus dem brennenden Panzer gezogen hatten. Danach hatte er sich entschieden, weiterzuleben und eine Schokoladenfabrik zu gründen. Er liebte Kakao. Auf unserer ersten Reise in die Tropen, auf der er mir die Kakaobäume zeigte, hatte er Tränen in den Augen gehabt. »Komm«, hatte er gesagt, »komm und fühle die Kakaobohnen. Nimm sie in die Hand und schließe die Augen. Daraus machen wir unsere Träume.« Ich hatte die Bohnen genommen, meine Augen geschlossen, aber nichts gefühlt. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mein weniges Geld zu nehmen und einpaar zerbombte Gebäude zu kaufen, um dort eine Schokoladenfabrik aufzubauen.
    Wahrscheinlich war ich an meinen toten Punkt gekommen, als Martin bleich, mit wächserner Haut im Krankenhaus vor mir gelegen hatte. »Wir haben ihn nicht retten können«, flüsterte mir ein Arzt ins Ohr und reichte mir verlegen die Hand. Ich hatte immer angenommen, dass Martin seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, doch hier im Krankenhaus, während ich auf den Leichnam meines einzigen Sohnes hinabblickte, bemerkte ich, dass ich mich getäuscht hatte. Er sah mir ähnlich, das lockige braune Haar, die Form der Augen, die hohe Stirn, in der sich schon die ersten zaghaften Falten abzeichneten, die sich bei mir bereits tief

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