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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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betrachtet wirkte sie ein wenig jünger, um die siebzig, mit grauem, gut frisiertem Haar und einer viel zu großen Hornbrille, die sie wie eine Eule aussehen ließ.
    »Hatten Sie einen Termin bei ihr?« Die Augen hinter den dicken Brillengläsern tasteten mich ab.
    »Nun, nicht direkt.« Für einen kurzen Moment kam ich mir wie ein Eindringling vor. »Wir hatten nicht von einer genauen Uhrzeit gesprochen.«
    »Es ist schön, Herr Graf, wenn Sie sich ein wenig um unsere Pastorin kümmern«, fuhr die Frau fort. Der Hauch von Argwohn, der in ihrer Stimme gelegen hatte, war verschwunden. Möglicherweise hatte sie mich erst jetzt erkannt. »Sie hat es wirklich nicht leicht. Wahrscheinlich wissen Sie ja längst, dass ihr Mann sich vor drei Monaten umgebracht hat. Taugte nicht viel, der Kerl, lag meistens auf der faulen Haut, aber es gefällt den Leuten natürlich nicht, wenn sich ausgerechnet der Mann einer Pastorin das Leben nimmt.« Die Frau nickte zu ihren Worten, als müsste sie jedes einzelne bekräftigen. Dann zupfte sie sich ihr schwarzes Halstuch zurecht und wandte sich ab. Doch plötzlich, während sie schon den ersten Schritt in Richtung Kirchplatz gemacht hatte, schien ihr noch etwas eingefallen zu sein. Sie drehte den Kopf und lächelte matt. »Kommen Sie morgen in die Messe, wenn Sie der Pastorin einen Gefallen tun wollen. Wir müssen ihr alle zeigen, dass wir sie nicht im Stich lassen.« Die Alte hob die Hand und ballte entschieden die Faust, wie ein Trainer, der seinem Schützling Glück wünschte. »Also, morgen um zehn Uhr. Vergessen Sie es nicht.«
    Ich stand mit meiner Feder in der Hand da und schaute der Frau nach. Sie schien meinen Blick zu spüren, denn sie hob noch einmal die Hand zum Gruß, ohne sich nach mir umzudrehen. Was sollte ich tun? Ich gestand mir zum ersten Mal ein, dass ich mich auf die Begegnung mit der Pastorin gefreut hatte. Ihr Mann hatte sich umgebracht; das mochte eines der Geheimnisse sein und der Grund, warum sich ihr Sohn so merkwürdig verhielt. Hatte ich den Abschiedsbrief ihres Mannes gefunden? Aber warum hatte er das rätselhafte Schreiben zwischen den Schallplatten meines Vaters versteckt, wo niemand es finden würde?Wollten Selbstmörder in der Regel nicht, dass man ihre Abschiedsbriefe las und verstand? Ein Gedanke begann sich in meinem Kopf zu formen, vor dem ich mich furchtete, den ich mir auch gar nicht eingestehen durfte. Wo hatte der Mann der Pastorin sich umgebracht? Und warum schlich der Junge unentwegt um das Haus? Ich glaubte die Antworten auf diese Fragen mittlerweile zu kennen.
    Die elektrischen Kerzen des Weihnachtsbaums warfen ein eigentümliches weißes Licht auf den Vorplatz, als wäre er schon mit einer weichen Schneeschicht überzogen. Ich nahm die Feder und schob sie unter der Tür hindurch. So würde die Pastorin wenigstens wissen, dass ich ihre Einladung angenommen hatte.

16. Dezember
    Ich tat etwas Seltsames, als ich von der Pastorin zurücklief. Schon am See begann ich Holz zu sammeln. Einige Spaziergänger beobachteten interessiert, wie ich sogar bis ins Schilf kroch, um einzelne Zweige aufzulesen. Mit einem Arm voller trockener Aste kehrte ich zu Licht zurück. Längst war es dunkel geworden. Der Vogel stieß einen heiseren Schrei aus und starrte mich an. Ich deutete sein Krächzen als einen freundlichen Willkommensruf. Ein paar Schritte von seinem Käfig entfernt, damit ich ihn nicht in Angst und Schrecken versetzte, legte ich das Holz ab und baute mit ein paar groben Steinen eine Feuerstelle. Doch bevor ich das Feuer entzünden konnte, musste ich das Fressen für Licht vorbereiten. Das ganze Haus roch mittlerweile nach Fisch. Ich warf Licht eine ordentlichaufgetaute Scholle in sein Gehege. Er war nicht wählerisch, sondern flatterte einmal versuchsweise mit den Flügeln, als wollte er mir sagen, dass er normalerweise selber für seine Nahrung sorgte, und machte sich sogleich über den Fisch her.
    Ich beschloss, auch Fisch zu essen. Ich spießte eine kleinere Scholle auf einem spitzen Ast auf, um sie dann ins Feuer zu halten, das ich mit einiger Mühe in Gang bekommen hatte. Das Feuer schien Licht nichts auszumachen. Mir tat die Wärme gut, wenn auch der Fisch kaum anders als verbrannt schmeckte. Funken stoben auf und wischten wie winzige, rasch verglühende Sterne umher. Von irgendwoher aus dem Dorf drang Weihnachtsmusik. Sie war nicht wirklich zu hören, eher zu erahnen, wie ein leiser Hauch in der Nacht.
    Wenn es einen Frieden auf der Welt

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